Die Rabenkrähe, die das Krähen nicht lernen durfte …

Beitrag von Dagmar Offermann, Team Wildvogelhilfe, April 2006

Unsere Bekanntschaft mit Eule begann mit einer telefonischen Anfrage, hier verkürzt wiedergegeben: „Wir haben gehört, dass Sie sich um Rabenvögel kümmern. Wir hätten da ein Anliegen. Haben seit 1½ Jahren eine Rabenkrähe in Obhut, die kann nicht fliegen und ist einsam. Würden Sie sie aufnehmen?“

Da wir neben diversen anderen Tieren schon einige Rabenvögel in unserer Obhut haben, die in einer Außenvoliere auf die Freiheit vorbereitet werden und auch wir nur begrenzte Kapazitäten haben, habe ich der Dame am Telefon schweren Herzens abgesagt.

Den Hörer aufgelegt und im selben Moment gewusst, dass es so nicht geht. Nicht geht für mich.

Natürlich konnte ein Nein nicht so stehen bleiben, gab es doch offensichtlich da irgendwo weit entfernt ein Wesen, das sich nach einem artgerechten Zuhause sehnte.

Bestärkt in meinem Entschluss durch die Meinung meines Partners – „Ruf an, so ein armer Wicht braucht ein Zuhause!“ – den Hörer genommen und die Dame zurückgerufen und mich bereiterklärt, den Rabenvogel aufzunehmen.

Einige Tage später zog Eule bei uns ein.

Auf den ersten Blick ein durchaus fitter Vogel, der nur ein wenig Abgewöhnung benötigt und dann endlich sein Leben leben darf, ein freies Leben unabhängig vom Menschen.

Wäre da nur nicht das Zittern gewesen, eine ganz klare Haltung von Unterwürfigkeit – Angst, sich klein machen. Es war sofort klar, dass Eule den Menschen in ihrem bisherigen Leben als Revierinhaber verstanden hat, ein Wesen, vor dem man sich unterzuordnen hat.

Das hat uns sehr traurig gemacht, wir haben Eule so sehr in Ruhe gelassen, wie es eben ging, wenn man die Voliere säubern muss etc. Und ihr immer wieder beruhigend zugeredet.

Eule hat zwei Wochen lang keinen Laut von sich gegeben.

Wir dachten schon, sie sei stumm.

Bis zu dem Morgen, an dem wir von lautem Hundegebell geweckt wurden! Bei uns lebt so ziemlich alles, aber keine Hunde. Daher sind wir beide ganz verwirrt aus dem Schlaf hochgeschreckt … Eule!

In den folgenden Tagen überraschte uns Eule mit Miauen, papageienähnlichen Rufen und undefinierbaren Lauten. Ganz, ganz selten war ein echter Rabenvogellaut zu hören.

Eule hat in ihrem ganzen Leben mit Sicherheit noch keinen Artgenossen gesehen/gehört/erlebt. Eher Katzen, Hunde, Papageien und anderes.

Auf Artgenossen reagiert sie sehr ängstlich oder extrem dominant.

Wir hoffen von ganzem Herzen, dass Eule einen Kontakt zu ihren Artgenossen aufbauen kann und ganz, ganz bald ein echter Rabenvogel sein darf.

Neun Monate später

Es ist halb sechs in der Früh, es nieselt und es ist kalt. Ich wickele mich in meine dicke Jacke, schnappe mir mein Search-Eye (große Taschenlampe), den Eimer mit frischem Rindenmulch, den Eimer mit den Futterschüsseln, die 10-l-Gießkanne mit frischem Wasser und marschiere in den Garten.

Noch bevor ich in die Nähe der Voliere komme, werde ich mit lautem Rufen begrüßt – Rufe, wie sie wilde Rabenvögel von sich geben – ganz deutlich erkennbar für mich auch Eules Ruf darunter. Ihr Ruf ist gleich dem eines Rabenvogels, aber sehr dominant, Revier verteidigender, wie die der jüngeren Rabenvögel.

Ich gehe in die Voliere, da sitzen sie alle aufgereiht, die Rabengenossen, ganz nah beieinander auf den Ästen. Mitten drin Eule, ein schelmischer Blick von der Seite, dann kommt Leben in die Körper und ein jeder sucht den für sich besten Platz in der Gemeinschaft, denn jetzt ist Frühstück angesagt.

Ich sitze dort auf meinem Baumstumpf und beobachte:
Jeder der Rabenvögel hat – genau wie die Menschen – sein ganz eigenes Wesen, der eine scheu, fast panisch. Der andere neugierig und fordernd, wieder ein anderer zurückhaltend und abwartend.

Eule schnappt sich ein Futterstückchen, läuft aufgeregt zur Badeschale, tunkt es ins Wasser, ein Kollege nähert sich ihr, erst ganz zaghaft, dann fordernder und entreißt ihr das Futter. Ich bin ganz gespannt, was nun passiert und traue meinen Augen kaum: Eule schlägt mit ihren Flügeln und fliegt weg, ja, sie fliegt! Wenn auch noch nicht freiheitstauglich, aber sie bewegt ihre intakten Flügel und segelt eine weite Strecke. Sie scheint erkannt zu haben, dass sie physisch in der Lage dazu ist, ihre Flügel zu bewegen. Sie wird es sich bei den Kollegen abgeschaut haben.

Junge Rabenkrähe in einer Voliere, © Dagmar Offermann
Junge Rabenkrähe in einer Voliere, © Dagmar Offermann

Nach der Landung auf der anderen Seite der Voliere schaut sie verdutzt drein, so als wolle sie sagen:
„Was war denn das?“, dreht sich auf dem Absatz um und marschiert in Rabenvogelmanier zurück zum Ort des Geschehens. Sie setzt sich neben den „räuberischen“ Kollegen und schaut ihn fordernd an. Hänsel legt ihr das Futterstück zu Füßen und es wird feierlich gemeinsam verspeist. Beide wirken recht entspannt. Ich würde behaupten, dass ihr Gemütszustand Zufriedenheit, wenn nicht gar Glück ausdrückt. Eule hat ihren Platz in der Gemeinschaft gefunden!

 

 

 

 

Rabenkrähe an einem Futterplatz, © Dagmar Offermann
Rabenkrähe an einem Futterplatz, © Dagmar Offermann

Eule und ihre Kollegen waren hilflose Geschöpfe, ohne artgerechte menschliche Hilfe wären sie alle entweder nicht mehr am Leben oder – was ich persönlich als wesentlich schlimmer empfinde – existent, aber sterbend in der Seele.

Ich kann den Tag kaum erwarten, an dem ich die Volierentür öffne und Eule und ihre Freunde gemeinsam in das für sie bestimmte Leben ziehen werden. Es gibt keine glücklicheren Augenblicke in der Pflege von Wildvögeln. Aber es wird sicherlich noch eine Weile dauern, bis dieser Tag gekommen sein wird, und ich und die Rabenvogelgesellen müssen sich in Geduld üben, denn sie haben noch viel nachzuholen an Erfahrungen, die ihre wilden Kollegen ihnen voraus haben.

Aber der Tag wird kommen …!