Matjes – eine Erfolgsstory (1)
Gastbeitrag von Hilu Lalic, Juli 2003
Dieses laute „Tschilp“ am frühen Morgen, das sich in halbminütiger Folge ständig wiederholte war eigentlich nichts Ungewöhnliches für die Jahreszeit. Es war Mitte Juli und Elvis und Elvira hatten bestimmt mal wieder Nachwuchs. Der Hungerschrei kam direkt aus einem kleinen Federbällchen in einem großen Blumentopf unterhalb unseres Fensters. Aus angemessener Entfernung schauten wir uns den nimmersatten Schreihals mal an. Nun ja, wie kleine Amseln eben aussehen: trotzig, mit viel zu breitem Schnabel und ohne Schwanz. Bitterlich flehte sie um einen Happen in Form eines Wurmes.
Wir hatten zwar Mitleid mit dem kleinen Racker, vertrauten aber auf unseren Elvis, oder wer immer seine Eltern waren, und zogen uns zurück. Wir wussten, dass es durchaus bis zu einer Stunde und länger dauern kann bis sich ein Elternteil blicken lässt.
Gegen Mittag war das Tschilpen zwar etwas leiser und zaghafter geworden, aber immer noch von der gleichen Stelle zu hören. Das war ungewöhnlich. Selbst bei ganz jungen Amseln, die gerade das Nest verlassen haben, war festzustellen, dass sie nie lange an einem Ort blieben, sondern gern ein bisschen umherhüpfen. Aber vielleicht war dieses Tier die Ausnahme von der Regel. Wir beschlossen also das Küken zu beobachten. Weitere zwei Stunden später hatte sich die Situation immer noch nicht geändert und das Tier wurde zusehends schwächer. Wir mussten eingreifen, da die Eltern offensichtlich nicht in der Nähe waren. Bei Amseln ist das übrigens kein Problem, wenn man sie anfasst, werden sie trotzdem später noch von der Mutter angenommen.
Vorsichtig wurde der Kleine aus seinem grünen Bettchen gehievt und erstmal mit kleinen Regenwürmern gestopft. Keine Spur von Dankbarkeit, sondern nur laut forderndes „mehr!!!“. Zwischendurch haben wir uns immer wieder zurückgezogen, in der Hoffnung, dass die leiblichen Eltern auftauchen und ihren Pflichten nachkommen. Aber nichts. Alles sah ganz schrecklich nach Adoption aus. Es ging gegen Abend und wir mussten uns überlegen, was zu tun ist.
Merkwürdigerweise wollte der Zwerg unbedingt durch die Terrassentür ins Haus, was ich aber nicht so toll fand. Mein Mann und ich waren uns einig, dass, wenn wir so eine Pflege übernehmen, dann nur so naturnah wie möglich. Der kleine Kerl sollte auf gar keinen Fall zum Knuddeltier werden. Das kleine Wesen vor uns sollte mal eine ganz normale Amsel werden, die vielleicht ab und zu unseren Garten und uns, seine Adoptiveltern besucht, aber ansonsten ein Wildvogel ist und bleibt.
Wir sahen unsere Aufgabe darin, der Natur ein wenig zu helfen und dem Kleinen eine Chance zu geben. Trotzdem mussten wir uns entscheiden, ob wir ihn nun über Nacht ins Haus nehmen oder nicht. Zuerst kleideten wir einen Plastikkorb mit Grünzeug aus und wollten unser Adoptivkind hier hinein verfrachten, um es vor den Gefahren der Nacht zu schützen. Riesentheater. Matjes, so wurde der Kleine getauft, wollte keine Sekunde in dieser Behausung bleiben. Wegen der hohen Verletzungsgefahr wurde das Unternehmen sofort abgebrochen.
Mein Mann, der ein guter Tierbeobachter ist, meinte, dass das Tier unter normalen Umständen ja auch allein draußen nächtigen würde. Sicher, die Eltern wären in der Nähe, aber bei Angriff durch Katze, Fuchs oder Marder wären auch sie hilflos. Die einzige Chance ist der Instinkt, der schon in so einem Winzling steckt. Er würde sich während der Dunkelheit ganz ruhig verhalten. Auch führen die Alten ihre Kinder an sichere Orte und wahrscheinlich können sie ihnen sogar Signale zum Stillsein geben. Wirklichen Schutz könnten wir Menschen so einem kleinen Tier nur garantieren, wenn wir es einsperren. Vierbeinige Raubtiere konnten wir in unserem Garten ausschließen und deshalb, nach langem Überlegen, nahmen wir unseren Matjes und setzten ihn direkt vor unser Schlafzimmerfenster in ein kleines Bäumchen und überließen ihn sich selbst. Wir ahnten nicht, dass wir uns mit dieser natürlichen Art der Aufzucht einen harten Job für die nächsten vier Wochen eingehandelt hatten.
Der zweite Tag.
Pünktlich am nächsten Morgen um 5:30 ist wieder der Schrei nach Würmern zu hören. Matjes steht vor der Terrassentür. Weit und breit keine Eltern oder Geschwister. Also raus aus dem Bett, Stiefel an und nach Würmern gegraben. Erste Fütterung. Dann schnell selbst gefrühstückt und Würmer graben und zweite Fütterung, kurz ausruhen und dritte Fütterung, usw. usw.
So konnte es nicht weitergehen. Also ab in ein Zoofachgeschäft und Beoperlen und Mehlwürmer und tiefgefrorene Fliegenmaden gekauft. Beoperlen eingeweicht, etwas Obst klein geschnitten und sich an die krabbelnden Mehlwürmer gewöhnt, ging es dann frischen Mutes an die sechste oder siebente Fütterung.
Bald spielte sich eine gewisse Routine ein. Matjes akzeptierte mich als seine Mutter und meine rechte Hand mit der Pinzette war mein Schnabel. Merkwürdigerweise mochte er von Anfang an meine linke Hand nicht und erschrak, wenn er zu viel nackte Haut sah. Von daher waren ärmellose T-Shirts nicht so sein Ding.
Als dann wieder der Abend kam, lösten sich alle Probleme wie von selbst: Matjes bekam gegen 19:30 noch einmal seine Würmchen mit Beoperlen und hoppelte dann unaufgefordert Richtung Schlafbaum, den er ohne große Anstrengung erklomm. Erstaunlich. Mein Mann entwickelte eine gewisse kriminelle Energie, indem er vom Einkauf eine einzelne Kirsche mitbrachte – unbezahlt. Abwechslung schien mir beim Speiseplan sehr wichtig.
Weiter geht es mit dem Kapitel Matjes – eine Erfolgsstory (2).