Rettung eines Mauerseglers (6)
Gastbeitrag von Christina Klink, Sommer 2004 (mit ergänzendem Bildmaterial weiterer Fotografen)
Nachmittags stellte sich eine recht kuriose Situation ein: Da es Apus in den letzten Tagen bei steigenden Temperaturen vermutlich zu warm geworden war, drängte er sich beim Füttern ein paar Mal aus meiner Hand, um sich einfach auf den Tisch fallen zu lassen und vorwärtsrobbend die nächstbeste Möglichkeit zum Anlehnen zu suchen. Das konnte die Küchenwaage ebenso gut sein wie die Fernbedienung, ein Kaffeebecher oder was sonst so auf dem Tisch war. Da es an diesem Tag so warm wurde, dass ich Schweißhände beim Füttern bekam, setzte ich Apus von vornherein einfach auf ein Stück Zeitung und Küchenpapier und setzte den Plüschhasen aus Frottee, den er einige Tage zuvor angebettelt hatte, als Halt neben ihn.
Das wirkte Wunder: Apus kroch fast ins Plüschtier hinein, bettelte es wieder piepsend und wie irre nach Futter suchend an und verdrückte ganze zehn umständlich von mir gereichte Heimchen. Ich war mir jetzt ganz sicher: Dieses Plüschtier galt als Ersatzmutti für ihn. Allerdings krabbelte er im Anschluss an dem Hasen hoch, und ich nahm ihn zweimal wieder herunter. Aber er setzte sich durch und krabbelte immer wieder zielstrebig hin und hinauf. Dann breitete er plötzlich die Flügel aus und absolvierte zum ersten Mal sein Flugtraining außerhalb der Kartons. Ich fand das einfach unglaublich.
An diesem Tag fiel mir auch auf, dass Apus nicht mehr nur nach Insekten schaute, sondern dass er regelrecht nach vorn zuckte und am liebsten losspringen wollte, um dicht vorbeifliegende Fliegen zu fassen. Bei der letzten Mahlzeit saß ich mit ihm auf dem Balkon und wie gewohnt tauchten um 21:10 Uhr die Mauersegler am Himmel auf. Apus sah sie, aber es gefiel ihm überhaupt nicht, er ging rückwärts, krallte und duckte sich in meine Hand. Ich setzte ihn an diesem Abend mit dem Bewusstsein in die Kiste zurück, dass es wohl doch noch ein paar Tage dauern würde. Federhülsen konnte ich ja noch fühlen und sein Verhalten beim Anblick der Segler ließ vermuten, dass er noch Angst hatte. Beim Zubettgehen wog er 43 Gramm.
Der dreizehnte Tag seines Aufenthaltes brach an. Für uns sollte er traurig werden, aber für Apus umso schöner. Um 7:00 Uhr holte ich den Kleinen aus der Kiste: Er wog nur 41 Gramm. Mithilfe seiner Ersatzmami, dem Plüschhasen, verspeiste er aber wieder genau zehn Heimchen. Dann wollte er erst mal nichts mehr annehmen und ich ließ ihn in Ruhe, war aber in Sorge, dass er nun doch zu viel abnehmen würde. Aber um 11:30 Uhr fraß er noch einmal zehn Heimchen, um danach das Gleiche zu tun wie am Tag zuvor. Apus kroch an der Ersatzmutti hoch und trainierte. Und dann traf mich fast der Schlag, als er mit einem kurzen Klimmzug auf den Kopf des Kuscheltieres krabbelte und einfach sprang. Glücklicherweise fand er im Wohnzimmer keinen Auftrieb und landete gleich daneben auf unserem Sofa. Natürlich geriet ich in Panik, denn man hatte mir doch gesagt, dass er nicht losfliegt, wenn er nicht die nötige Höhe hat und dass er das Fressen vorher verweigern würde. Was machte Apus denn bloß da?
Ich war völlig verunsichert. Und auf einen Abschied war ich an diesen Tag nicht eingestellt: Apus fraß noch und ich fühlte deutlich die Kanten zweier Federhülsen am Flügel. Allerdings wollte ich auch nichts falsch machen, sondern rief noch einmal Frau Haupt von der Deutschen Mauerseglergesellschaft an, um die Situation zu beschreiben. Ich hatte ja sowieso noch Fragen zu einem neuen, von uns gewählten Startplatz für Apus.
Frau Dr. Haupt gab sich im Gespräch verwundert darüber, dass in Rendsburg noch Mauersegler waren, da die Frankfurter Segler schon auf den Weg nach Afrika seien. Ihre Antwort zum Entwicklungsstand unseres kleinen Gastes, zum Startplatz und zum Wetter (Sonne, Wolken und leichter Wind) war kurz und bündig: „Optimal – sofort versuchen, bevor die Segler weg sind!“
Ich rief die Mädchen dazu, die mir den Gast beschert hatten, und meinen Mann. Wir hatten besprochen, den Platz weitestgehend abzusichern, um zu verhindern, dass eine Katze oder ähnliches daherkommt, wenn Apus den Start nicht schaffen würde. Dann setzte ich Apus in einen kleinen Weinkarton und ab ging die Post. Im Auto nahm ich ihn in meine Hand, um mich innerlich zu lösen. Er drückte sich fest hinein, lugte aber interessiert zwischen meinen Fingern durch und beobachtete durch das Schiebedach die vorbeisausenden Wolken, als ob er schon wüsste, was wir vorhatten.
Am Adolfsplatz angekommen, stieg ich mit Apus auf einen zwei bis drei Meter hohen Hügel. Saskia, Jasmin und Hans-Jürgen blieben unten, um den Platz zu sichern, Ausschau nach Mauerseglern und Feinden zu halten oder um zu fotografieren. Die Mauersegler waren wie gewohnt gleich da, sahen Apus wohl und verweilten über dem Platz. Sie kamen tiefer und kreischten. Apus zitterte in meiner Hand, saß aber locker da, ohne sich festzukrallen. Er schaute nur, was um ihn herum passierte. Ich streichelte ihn noch einmal und hob ihn mit meinen Händen in die Höhe, so weit es ging. Er zeigte keine Regung. Fünf Minuten standen wir so da, ohne dass etwas passierte, und den Mauerseglern am Himmel war es wohl zu blöd, denn sie machten sich davon.
Dann spürte ich plötzlich einen Windhauch von hinten. Ach Herrje, das hatte ich ja gar nicht berücksichtigt, Apus brauchte doch Gegenwind für den Start. Ich nahm ihn also wieder herunter, stieg den Hügel herab, überquerte den Platz und stellte mich auf die andere Seite auf das Kletterhaus des Spielplatzes. Dieses Mal gegen den Wind und ein drittes Mal nahm ich Abschied mit einem sanften Streicheln. Als wieder ein paar Mauersegler über den Bäumen auftauchten, hob ich Apus erneut in die Höhe. Es tat sich eine Minute lang gar nichts, dann kam ein sanfter Wind, Apus plusterte sein Gefieder am Rücken etwas auf, setzte mir (ohne Rückwärtslaufen) einen Haufen in die Hand, zögerte nur ganz kurz und sprang in sein neues und freies Leben in der Luft. Ich sah ihn einen Bogen fliegen, dann sauste er zielsicher zwischen den Bäumen durch in die nächstliegende Straße, als ob er im Leben nie etwas anderes getan hätte als zu fliegen. Wir waren perplex, dass es so schnell ging, denn er spannte nicht etwa die Flügel auf bevor er sprang, sondern hüpfte einfach ohne Vorzeichen von meiner Hand.
Da er unseren Augen entschwunden war, schauten wir uns sicherheitshalber noch genau um, ob er vielleicht doch irgendwo abgestürzt war, aber es sah nicht danach aus. Und dann schauten wir uns Mauersegler an, die über uns flogen. Ein Dreiergespann sauste recht tief um die Häuser und kam immer wieder an uns vorbei, wobei nur einer von ihnen piepste. Ebenfalls nur einer von ihnen scheute sich mit den anderen beiden zusammen zwischen zwei Häusern durchzujagen. Er bog jeweils vor dem Haus ab. Wir bildeten uns ein, dass dieser Mauersegler der unsere sein musste. Vielleicht wollte er uns zeigen, wie spielerisch er sich in der Luft bewegt und vielleicht wollte er „Adieu“ sagen oder uns zum Mitfliegen animieren. Ob dem so ist, wissen wir natürlich nicht, aber wir schossen ein paar Bilder von den drei Mauerseglern und diesem Einzelgänger.
Die Segler zogen dann höher und gesellten sich zu den anderen weiter oben am Himmel. Es war jetzt sinnlos, weiter stehen zu bleiben. Wir konnten für Apus ja doch nichts mehr tun. Er muss seinen Weg gehen, auf sich selbst aufpassen und von seinen Artgenossen lernen, wie man am besten durchkommt. Wir können nur hoffen, dass wir ihm alles mit auf den Weg gegeben haben, was er zum Überleben braucht und dass wir eine gute Ersatzfamilie für ihn waren. In Kürze wird er mit der Kolonie in den Süden Afrikas ziehen und so lange in der Luft bleiben, bis er selbst eine Familie gründen kann.
Zum Tränen vergießen kamen wir nicht, aber Wehmut war doch dabei: Wenn überhaupt – werden wir unseren Mauersegler nur noch als einen von vielen Punkten am Himmel sehen, aber nicht mehr als Apus erkennen können. Es ist unwahrscheinlich, dass wir jemals wieder einem Mauersegler so nah sein können. Wir sind traurig, aber ebenso glücklich, dass wir diesen kleinen Kerl aufpäppeln und ihm die Freiheit geben konnten, nachdem er Heim und Familie verloren hatte, von Parasiten angefressen wurde und fast unter die Räder gekommen wäre.
Mit viel Aufwand und Detektivarbeit konnten wir aus dem gefundenen, struppigen kleinen Etwas einen glänzenden schönen Vogel machen. Dem Tierarzt haben wir ein paar Informationen über Mauersegler zukommen lassen. Wir hoffen, dass er dem nächsten Menschen, der mit einem kleinen Mauersegler daherkommt, bessere Anleitungen und Hilfen gibt. Was wäre wohl aus Apus geworden, wenn ihn jemand gefunden hätte, der sich keine Hilfe über das Internet holen kann? Mehlwürmer, in die Luft werfen und bei Käfighaltung gebrochene Schwungfedern: All das hätte ein Todesurteil sein können.
Am 2. August 2004 um etwa 12:50 Uhr nahmen wir nun endgültig Abschied von unserem Mauersegler „Apus apus„:
„Leb wohl kleiner Freund – pass auf Dich auf und komm nächstes Jahr heil zurück nach Rendsburg! Vielleicht erinnerst Du Dich dann an die Töne unserer Musik, wenn wir proben oder an den Kirchturm vor unserem Balkon. Und vielleicht bist Du dann einer der Mauersegler, die während der Proben vom Musikkorps Rendsburg über dem Schulhof Insekten jagen, oder vielleicht auch nur einer der abends zwischen 21:10 und 21:30 Uhr in den Himmel aufsteigenden Mauersegler. Schön wäre es! Wir werden Dich, Dein Piepsen, Dein Flattern, Dein „Kinn-Entgegenstrecken“ und Deinen „Micky-Maus-Blick“ vermissen.
Die Frage, ob wir Dich wiedersehen, wird immer offen bleiben. Und dazu kommt nach Deinem Ausflug die Frage: Bist Du es, der in diesen Tagen eineinhalb Stunden früher und wesentlich tiefer als alle anderen über unserem Rasen und um den Kirchturm herum segelt – mal allein, mal zu zweit, mal zu dritt? Wir wissen es nicht, aber wir möchten gerne daran glauben. In unseren Herzen wirst Du immer bleiben!“