Aufzucht einer Kohlmeise
Gastbeitrag von Katrin Merkel, Dezember 2004 (mit Bildmaterial anderer Autoren)
Seit Jahren brüten bei uns im Garten die Meisen sehr erfolgreich. Dieses Jahr hatten sie Ende Mai/Anfang Juni eine zweite Brut mit acht Jungen. Dem Meisenvater war es wohl zu anstrengend, denn er verschwand eine Woche nach deren Schlüpfen spurlos. So war Frau Meise allein und gab ihr Bestes. Wir beobachten die Vorgänge am Meisenhaus immer ganz genau, und so entschlossen wir uns hier zur Hilfe. Es gab Wildvogelaufzuchtfutter und täglich ein paar Mehlwürmer in einer kleinen Schale auf unserem Tisch. Frau Meise nahm das dankbar an. So wurden die acht Kleinen groß und flogen an einem schönen Donnerstag unter unseren Blicken in die Welt hinaus.
Der letzte der Kleinen traute sich nicht aus dem Häuschen heraus. Seine sieben Geschwister flatterten lauthals bettelnd ihrer Mutter hinterher, die sie in den angrenzenden Park führte, und die Lockrufe klangen immer entfernter. Alleingelassen, sprang er mutig hinaus – und fiel sofort steil hinab ins Gras. Beim genauen Hinsehen war klar, weshalb er seinen Geschwistern nicht in die Lüfte folgen konnte: er hatte fast keine Federn! Er war auf dem Rücken und am Bauch splitternackt, der Hals lang und dürr, nur ca. zehn Schwungfedern waren an pro Flügel vorhanden, der Kopf ganz kahl. Das Brustbein ragte spitz aus der Brust heraus – es war klar, dass er, der schwächste von allen, kaum Futter bekommen hatte.
Er hielt sich nur mit Mühe auf dem rettenden Finger. Da es aber zum Überleben gereicht hatte, wollten wir ihm helfen. Also nahmen wir das hässliche Ding und gaben ihm einen sicheren Platz in unserer Küche. Dort richteten wir einen Vogelkäfig mit Naturzweigen artgerecht her.
Seine Nahrung bestand von da an aus Heimchen, geköpften Mehlwürmern, abgebrühten Fliegenmaden und Vitamintropfen (Vitakombex) sowie ein wenig Wasser. Anfangs war es schwierig, die Portionen in seinen Schnabel zu stecken, denn er hielt nicht still. Zu groß war sein immerwährender Hunger.
Nach vielen Missverständnissen beiderseits gelang uns die Fütterung von Tag zu Tag immer besser. Er wurde schnell kräftiger, legte von ständig zu und konnte Dank einiger noch gewachsenen Federchen, die er sorgsam über die kahlen Stellen drapierte, seinen Körper wärmen. Nach sechs Tagen wagte er die ersten Flugversuche und nach zehn Tagen konnte er richtig gut fliegen.
Wir gewöhnten ihn von Anfang an daran, dass dem Füttern immer ein Doppelpfiff von uns voranging, das wurde unser Zeichen, auf welches er lauthals bettelnd angeflogen kam. Leider hatten wir auch zwei Wellensittiche, deren Sprache er nachzuahmen versuchte. So quatschte er immer leise vor sich hin, wie es die Wellensittiche eben so tun …
In dem aufgestellten Wassernapf hat vom ersten Tag an gern gebadet und seine Federchen danach penibel in Form gebracht. Da sein Käfig nie geschlossen wurde, fand er bald den Ausgang von allein. Nachts versteckte er sich dort drin in einer oberen geschützten Ecke. Nach ein paar Tagen begann er ganz selbstständig Ecken und Vorsprünge der Möbel nach Futter abzusuchen. Er klopfte mit seinem Schnabel an den Möbeln herum und durchsuchte unseren Ficus benjamini stundenlang. Die zappeligen Mehlwürmer, die wir daraufhin in Glasschälchen in der Wohnung auslegten, hat er schnell entdeckt und sie stundenlang bepickt und damit die Futteraufnahme geübt. Er nahm nichts mehr an, was sich nicht bewegte.
Verzweifelt hackte er sogar bei jeder Bewegung auf seine Füßchen ein bis sie bluteten. Es war ganz klar – er wollte ein beschäftigter Vogel sein, der sich sein Futter selbst sucht. So stellten wir schweren Herzens sein Vogelheim tagsüber auf die Terrasse in eine erhöhte katzensichere Position, nur am Abend kam der Kleine wieder in die Wohnung. Nach drei Tagen öffneten wir die Tür und er flog davon.
Das war es nun, sollte man meinen, doch weit gefehlt … Unsere Meise blieb im Garten.
Er flog nicht weit, nur bis in den nächsten hohen Baum, und dort hat er gleich ganz emsig Ast für Ast abgeklopft, bepickt und an den Blättern gezupft. Aber von Blättern wird man nicht satt. Also hat er auf den bekannten Pfiff ganz genau geachtet und ist täglich bis zu zehnmal gekommen, um sich sein Futter zu holen. Nur in den Käfig ist er nicht mehr hinein geflogen. Von der ersten Nacht an hat er ein Blätterversteck im Baum zum Schlafen bevorzugt.
Immer wussten wir, wo er sich im Garten befindet, denn er sprach deutlich „Wellensittich-Dialekt“ und hat auf seiner Suche an den Zweigen immer noch leise vor sich hin gepiepst. Außerdem war er nicht zu verwechseln: Kahler Kopf, fast nackter Bauch, grau zerrupftes Gefieder und verbogene Schwanzfedern.
Mit der Zeit wurden die Ausflüge jedoch immer länger und der Radius immer größer. Die Geschwister und andere Meisen kamen und beäugten ihn neugierig und er schloss sich ihnen immer häufiger an. So lernte er auch die richtige Meisensprache und legte das ständige „Herumgepiepse“ rasch ab. Aufmerksam beobachtete er stets den Himmel über sich. Schnell erlernte er den Warnpfiff, der jeder Wahrnehmung von Gefahr folgt, und er versteckte sich sofort wie die anderen bewegungslos im dichten Gebüsch. Das war am Anfang sehr lustig, wenn er jedes Flugzeug „meldete“. Er flog auch nie zu anderen Menschen hin und kam nur zu uns, wenn wir pfiffen.
Bis Anfang August haben wir immer weniger zugefüttert (Heimchen und die Puppen von Mehlwürmern) und er lernte schnell von den anderen Meisen, was essbar ist und wo man es findet. An seinen „Häufchen“ sahen wir, dass er auch rote Beeren und andere Dinge gefressen hatte.
Das machte uns Hoffnung, doch das Problem mit seinem Gefieder war nach wie vor nicht gelöst.
Im September kam er ziemlich zeitig für eine Meise in die lang ersehnte Mauser: Schlagartig verlor er alle Schwanzfedern, auf dem Kopf entstanden viele kleine „Spitzen“ und seine Erscheinung war noch kurioser als vorher.
Wir waren besorgt und gespannt, denn seine Überwinterung hing vom Ausgang der Mauser ab. Jede noch so kleine Veränderung wurde registriert und die Spannung wuchs mit jedem Tag: Kommen noch richtige Federn oder wird er im Winter erfrieren?
Nach Tagen löste sich unsere Anspannung, denn nun wurde es immer offensichtlicher: Er wird eine richtige schöne Meise. Mit allen Federn, die er so braucht, einem schönen blau-schwarz glänzenden Band um den Hals und breiter schwarzer Brust sowie einem richtigen Schwanz. Er hat sogar Höschen an den Beinen!
Anfangs haben wir ihn noch mit den anderen Meisen verwechselt, heute erkennen wir ihn aus jedem Schwarm auf den ersten Blick, denn er ist von allen Meisen die mit der kräftigsten Zeichnung auf Brust und Bauch und seine Stimme ist etwas heller als bei den anderen Meisen.
Als der Herbst Einzug hielt, verlangte er dann zunehmend nach anderer Nahrung: Sonnenblumenkerne und alle Arten von Nusskernen waren nun seine Lieblingsspeise. Doch er holte sich die Leckerbissen immer seltener, und wir wussten, dass er nun selbstständig seine Nahrung fand und uns Menschen nicht mehr brauchte.
Trotz allem steht heute noch heute jeden Morgen ein Schälchen mit Nüssen für ihn bereit, und pünktlich nach Sonnenaufgang hören wir immer seine Stimme im Garten. Manchmal kommt er noch auf die Hand, um einen Mehlwurm zu holen, aber er bleibt nie lang und wird stets von vier bis sechs anderen Meisen begleitet, die aufgeregt darüber schimpfen. Eilig muss er gleich weiter – es gibt viel Wichtiges zu erledigen -, und so ist es schön ihm zuzuschauen, wie er frei und unabhängig sein Meisenleben meistert.
Wir haben dem kleinen Vogel absichtlich nie einen Namen gegeben, auch wissen wir nicht, ob es ein Männchen oder ein Weibchen ist. Vielleicht erfahren wir es im nächsten Frühling, denn wie es scheint, bleibt er im Revier.