Grünling Gulliver
Gastbeitrag von Ingrid Roeschke, Sommer 2003
18.07.1997
Er ist ein Grünling, man sieht’s an dem Hauch von gelblichen Finkenstreifen, die sich schon zart in Dunen und Federchen abzeichnen, ca. 13 Tage alt. Gefunden wurde er auf einer befahrenen Straße im Neubaugebiet neben einem toten Geschwister. Er hat noch das „Greisenköpfchen“, die grauweißen Babydaunen, flattert aber schon etwas und blickt munter und vergnügt in die Welt. Der Tierarzt hatte ihn schon telefonisch angekündigt, aber nicht gesagt, was er ist, Körner- oder Weichfresser. Es zeigt sich jedoch bald, dass es völlig egal ist, was ich da an Futter zusammengebraut habe, denn er will es nicht. Ich lade den Brei auf eine Pipette, auf ein Wattestäbchen, auf ein Hölzchen, fasse ihn mit einer Pinzette. Der Kleine dreht den Kopf weg – er will nicht.
Ich piepse, ruckle mit der Hand, auf der er sitzt, tippe an sein Schnäbelchen, weiß ich doch nicht, auf welche Weise die Eltern die Fütterung ankündigen. Offensichtlich auf keine der von mir praktizierten. Darüber vergeht der Tag. Ein Tropfen Wasser ist alles, was ich in ihn hinein bringe. Die Nacht verbringt der Kleine in einem Bastkörbchen, weich ausgepolstert, in einer Schachtel.
19.07.1997
Umzug in einen Vogelkäfig. Das nun schon vertraute Bastkörbchen steht inmitten von Gräsern und Zweigen, ein goldgelbes Seidentuch verhindert, dass das Gitter angeflattert wird und schafft eine sanfte Stimmung. Nun wollen wir frühstücken. Wir? Ich will, er nicht. Ich piepse, ruckle …
Nichts! Ein Wassertröpfchen, das hatten wir doch gestern schon … Hellwach sitzt er auf meiner Hand, lässt sich umher tragen, lernt Balkon und Garten kennen, hört die Vögel – und dreht den Kopf weg, wenn ich mit Futter komme. Wenn er nicht frisst, wird er sterben. Zwei Tage ohne Futter für so ein winziges Vögelchen! Ich bin ratlos und verzweifelt. Der Tag ist um, ein paar Tropfen Wasser mit Traubenzucker hat er mir abgenommen, mehr nicht. Morgen muss etwas passieren!
20.07.1997
Das interessiert blickende Sorgenkind auf der Hand gehe ich zu Stephan und Harry, unseren Wellensittichen, setze mich, versuche es wieder mit dem Futter, der Kleine dreht den Kopf weg, er will einfach nicht! Er nicht, aber Stephan und Harry wollen. Sie kommen auf meine Arme, picken nach dem Futter … Das geht ja nun nicht! Plötzlich sperrt mein Zwerglein und will auch. Er frisst hungrig. Danke, Stephan und Harry. Neben den beiden sieht der Fink so klein aus, Gulliver bei den Riesen. Nun hat er also einen Namen.
Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, ich nutze die Zeit zum Studium. Grünlinge füttern ihre Jungen fast ausschließlich vegetarisch, das ist sehr selten, bekommen doch normalerweise auch die Jungen der Körnerfresser in ihrer Nestlingszeit Insekten und Räupchen. Nicht so die Grünlinge, „die Eltern geben einen sämigen Brei aus Körnern“. Gut, kann er haben, den sämigen Brei.
21.07.1997
Schon früh am Morgen schallt mir Gullivers Bettelgeschrei entgegen, Musik in meinen Ohren. Wenn er meiner (oder des Futters?) ansichtig wird, wird aus „pieeeep, pieeep, pieeep“ ein „PIEPIEPIEPIP“, dazu schlägt er begeistert mit den kleinen Flügeln. Zum Füttern verwende ich eine Pipette. Sie hat den Vorteil, dass ich gleich noch einen Schluck Kamillentee geben kann, damit‘ s besser rutscht.
22.07.1997
Es ist eine Freude, wie er frisst. Er tanzt aufgeregt auf der Sitzstange umher und reißt den Schnabel auf. Auch kommt er mir entgegen gestürzt. Das Auf-die-Hand-Nehmen dauert ihm zu lang; gut, bekommt er sein Futter halt im Käfig. Nach der Fütterung zieht er sich brav ins Bauer zurück, schläft eine Runde. Ich habe Körner auf den Boden gestreut, sie werden aber noch nicht beachtet.
23.07.1997
06:30 Uhr ist er wach, wartet schon schreiend auf seine Breimischung. Wir ziehen jetzt ein Wattestäbchen vor, darauf haftet das Futter besser als auf der Pipette. Die ist nur noch für den Kamillentee mit etwas Heilerde. Nach dem Fressen putzt sich Gulliver und knispelt etwas am Knöterich herum.
für den Nachmittag ist Freiflug geplant. Wir gehen erst mal in die Pilze. Als wir nach zwei Stunden heimkommen, ist das Bettelgeschrei unüberhörbar. Zeit, etwas Neues zu lernen. Ich gebe ihm den Brei nicht in den Schnabel, sondern schmiere ihn auf die Sitzstange. Kurze Verblüffung, dann erste Pickversuche. Gut!
Freiflug! Stress! Stephan will dem Kleinen zu gern am Schwanz ziehen. Alle paar Minuten steige ich auf den Stuhl, schiebe meine Hand dazwischen. Dann hilft mir Harry, schiebt sich zwischen Stephan und den Babyfinken, lenkt Stephan durch Schmusen ab, notfalls auch durch einen Schnabelhieb. Der Kleine klettert, flattert auch einige Zentimeter, lässt sich leicht fangen, schläft erschöpft.
26.07.1997
Gulliver hat gelernt, Kamillentee aus einem Näpfchen zu trinken und Futterhäufchen von der Stange zu picken. Er beginnt auch schon, Körner vom Boden aufzunehmen. Er wartet schon immer auf den Freiflug, der jetzt das Wort Flug auch tatsächlich schon verdient. Das Einfangen wird immer schwieriger.
27.07.1997
Salat fressen alle drei gern. Heut ist es trüb, alle Vögel sitzen in gedämpfter Stimmung herum.
28.07.1997
Neben den bisherigen Käfig habe ich den geräumigen Papageienkäfig gestellt, Tür an Tür, sodass Gulliver hin und her kann, wenn ich mal keine Zeit für Aufsicht habe. Gestern musste ich ihn in Freiheit einschlafen lassen, weil er sich einfach nicht mehr fangen ließ. Ich habe ihn dann im Dunkeln gefasst und in sein Bauer gesetzt. Er wachte sofort auf, schrie Zeter und Mordio und zappelte wie wild. Er tat mir so Leid.
Gulliver frisst jetzt alles, was seine Freunde Stephan und Harry fressen, nur noch morgens seinen Brei. Stephan ärgert ihn auch nicht mehr, er bekommt ihn auch gar nicht mehr.
28.07.1997
Oft hängt Gulliver an der Fenstergaze und guckt in den Garten. Den Babyflaum hat er abgelegt, die gelben Finkenstreifen sind gut zu erkennen.
31.07.1997
Gulliver besucht mehrmals täglich den mit Futter reich versehenen Käfig von Stephan und Harry. Woanders schmeckt‘ s immer besser.
06.08.1997
11:00 Uhr, herrliches Wetter – das ist der rechte Zeitpunkt! Zufällig sitzt er im Käfig seiner Freunde. Na, wunderbar, muss ich ihn nicht fangen! Tür zu und schon steht er auf dem Balkon. Nach einiger Zeit des Umguckens und Orientierens wird die Tür geöffnet. Keine Aufregung, kein Flattern, Klettern, Anfliegen. Einige Minuten tut sich gar nichts. Gulliver sitzt gelassen da und betrachtet sich die grüne, sonnige Welt. Dann hüpft er gelassen aufs Käfigdach, schüttelt sich, beginnt sich zu putzen, putzt Feder für Feder, schüttelt alles wieder durch. Etwa eine halbe Stunde lang. Schließlich wagt er den Sprung auf eine Weinranke, auf die nächste, in den Fliederbaum. Dort sitzt er noch lang. Er ist ein schöner, kräftiger Vogel, bereit für ein selbständiges Leben in Freiheit. Viel Glück, kleiner Gulliver!
Am Abend sehe ich ihn auf unserem Schornstein, er fliegt über das Nachbarhaus, landet auf dem übernächsten Schornstein. Von dort geht es zum Giebel, von wo er die Wellensittiche hören kann. Eine Weile sitzt er da, hört zu, dann fliegt er davon …