Tierliebe und Fehlprägung

Beitrag von Dagmar Offermann, Team Wildvogelhilfe, April 2006

Manche Begriffe werden im Alltag sehr häufig verwendet, ohne dass ihre Bedeutung hinterfragt wird. In diesem Beitrag wird einem dieser Begriffe auf den Grund gegangen und er wird vor dem Hintergrund der Pflege bedürftiger Wildvögel diskutiert.


Tier“liebe“ – was ist das?

Ich habe lange nach einer Definition für „Liebe“ gesucht, die meinem Verständnis von Liebe am ehesten entspricht. Unter Wikipedia bin ich dann fündig geworden:
Hier wird Liebe als
„… ein Gefühl oder mehr noch eine innere Haltung positiver, inniger und tiefer Verbundenheit zu einer Person, die den reinen Zweck oder Nutzwert einer zwischenmenschlichen Beziehung übersteigt und sich in der Regel durch eine tätige Zuwendung zum anderen ausdrückt …“,
verstanden. So hieß es auf der Seite im April 2006, während ich diesen Beitrag verfasste.

Tierliebe meint analog:

… ein Gefühl oder mehr noch eine innere Haltung positiver, inniger und tiefer Verbundenheit zu einem Tier, die den reinen Zweck oder Nutzwert einer Mensch-Tier-Beziehung übersteigt und sich in aller Regel durch eine tätige Zuwendung zum Tier ausdrückt.

Diese Definition beschreibt meiner Meinung nach „echte“ Tierliebe. Eine Tierliebe, die das eigene Wohl/Gefühl zurückstellt, die keinem eigenen Zweck dient, keinen Nutzen für den Menschen an sich mit sich bringt. Eine Art der „bedingungslosen Liebe“.

Was diese beinhaltet, ist für fast alle Tierarten gleich, wobei ich mich an dieser Stelle speziell auf Wildvögel beziehe.

Findet man einen hilfsbedürftigen Jungvogel oder einen in Not geratenen Altvogel, so wächst das Menschenherz in der intensiven Pflegezeit sehr rasch an dieses hilflose Wesen. Sehr schnell gewöhnt man sich an den „Patienten“, schließt ihn ins Herz, fühlt sich verantwortlich, möchte dieser Verantwortung nachkommen und all seine Möglichkeiten einbringen, damit der Vogel sorglos leben kann.

Meistens sind es die offensichtliche Hilflosigkeit und das blinde Vertrauen, das der Vogel dem menschlichen Helfer entgegenbringt, die dazu führen, dass die Pflegeperson starke Gefühle für ihren Pflegling aufbringt. Viele Menschen berührt es tief, wenn sie das Gefühl haben, gebraucht zu werden und einem hilflosen Wesen helfen zu können.

Gegen diese Gefühle ist nichts einzuwenden, doch sollten sie sich nicht darin äußern, dass der Vogel nun besonders verhätschelt und umsorgt wird. Ganz im Gegenteil, gerade das Loslassenkönnen ist ungemein wichtig, um Ihren Pflegling bestens auf sein bevorstehendes Leben in Freiheit vorzubereiten.

Versetzen Sie sich in den Vogel und sehen Sie ihn nicht aus Ihrer eigenen Perspektive: Ein Wildvogel ist kein Kindersatz oder etwas derartiges, versuchen Sie sich lieber in den Vogel hineinzudenken und sich vorzustellen, was er draußen alles lernen und können muss, um zurecht zu kommen. Falls Sie sich damit überfordert fühlen, ist es für den Vogel das Beste, wenn Sie ihn schnellstmöglich in erfahrene Hände abgeben. Ansonsten kann „Tierliebe“ – entstanden aus Unwissenheit und Gedankenlosigkeit – lebenslanges Leiden des Vogels verursachen!

So bitte nicht! Diese Nebelkrähe ist verspielt und auf Menschen geprägt, weshalb eine Auswilderung dieses Vogels sehr schwierig sein dürfte, © Sigrid Breineder
So bitte nicht! Diese Nebelkrähe ist verspielt und auf Menschen geprägt, weshalb eine Auswilderung dieses Vogels sehr schwierig sein dürfte, © Sigrid Breineder

Die Aufzucht oder Pflege eines Wildvogels ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, die eine emotionale Disziplin erfordert, ein sich stetiges Zurücknehmen, um dem Vogel den optimalen Start in seine Welt zu ermöglichen.

„Echte“ Tierliebe kann nur bedingungslos sein. Das bedeutet, es kann nicht darum gehen, was ich als Mensch fühle, sondern nur darum, was für den Wildvogel das Beste ist. Hierzu zählt vor allem:

  • Es ist alles daran zu setzen, dass der Vogel, der aufgezogen/gepflegt wird, bald das für ihn bestimmte Leben in Freiheit leben kann. Dies umfasst vor allem Beschäftigung mit den Bedürfnissen der Vogelart, Beschaffung artgerechter Nahrung, Vermeidung von Fehlprägung.
  • Es ist alles daran zu setzen, dass ein gehandicapter und nicht wieder freiheitsfähiger Vogel eine möglichst artgerechte Unterbringung in Gesellschaft von Artgenossen erfährt.
  • Es ist alles daran zu setzen, den Vogel vor unnötigem Leid zu bewahren.