Aufzucht eines Grünfinks
Gastbeitrag von Karla und Gernot Disselhoff, Sommer 2003 (mit zusätzlichem Bildmaterial anderer Autoren)
13. Mai 2003
Gegen 16:00 Uhr klingelt unser Telefon. Unsere Tochter Anna, die in Köln ihre Ausbildung macht und in Leverkusen wohnt, teilt uns ganz aufgeregt mit, dass sie soeben auf der Wiese vor ihrer Wohnung den Raubzug zweier Rabenkrähen unterbrochen hat, die kleine junge Vögel aus einem Nest in den Bäumen geraubt hatten. Wie viele es genau waren, die sich nun nicht mehr in der Obhut ihrer Eltern befanden, konnte sie nicht genau sagen. Auf jeden Fall lagen zwei kleine Nestlinge im Gras vor ihrem Balkon. Sie wolle jetzt erst einmal zwei Stunden abwarten und schauen, ob die Eltern sie wieder anfliegen würden, um zu sie füttern.
Es hat sich bis ca. 20:00 Uhr wohl nichts in dieser Richtung getan, denn sie rief uns dann an und sagte, dass sie die kleinen Knäuel jetzt in ihrer Wohnung auf dem Wohnzimmertisch hätte. Sie wolle sich dann morgen mit dem Tierheim in Köln-Mühlheim in Verbindung setzen, um sie dort eventuell abliefern zu können oder um Tipps zu bekommen.
14. Mai 2003
Der Besuch im Tierheim hat ihr dann lediglich den Hinweis auf ein bestimmtes Aufzuchtfutter gebracht, mit dem sie die kleinen Vögel füttern solle. Ein Holztablett, versehen mit einem Blumentopf als Nest, darin etwas Sand und Gras und darüber als Schutz einen umgestülpten Wäschekorb – das war das neue Zuhause der Beiden. Alles in Ermangelung eines Käfigs beziehungsweise einer Voliere.
Jedes Mal, wenn Anna mit dem Futternapf und dem umgekehrten kleinen Löffel in die Nähe der Beiden kam, waren großes Gepiepe und die Bettelhaltung in Form heftigen Flügelschlagens angesagt – soweit man überhaupt schon von Flügeln sprechen konnte.
Zum großen Glück für die neuen Mitbewohner hatte Anna während dieser Zeit noch Ferien von ihrer Ausbildung, sodass sie tagsüber zu Hause war und jede halbe bis dreiviertel Stunde die Fütterung vornehmen konnte. Lediglich von 17:00 bis ca. 21:00 Uhr musste sie die Beiden alleine lassen, da sie dann zum Handballtraining musste. Dies ist ihr Nebenberuf, sie spielt beim TSV Bayer 04 Leverkusen in der Bundesligamannschaft. Während dieser Abwesenheit wurde dann wieder der Wäschekorb als Schutz über das Tablett gestülpt.
15. Mai 2003
Heute haben die Beiden die ersten Flugversuche unternommen und sich als Lieblingsplatz eine schöne große Pflanze ausgesucht, die sie sofort nach dem Füttern immer wieder anflogen. Dort haben sie dann auch bis zur nächsten Fütterung gesessen und viel geschlafen.
Der Eine traut sich noch nicht so recht, während der Andere seinen Platz in dem Baum schon eingenommen hat: Bevor der Schlafplatz für die Nacht aufgesucht wurde, hat man noch schnell eine Zwischenlandung bei Anna gemacht.
16. Mai 2003
Den Beiden stand heute ein Umzug nach Bergisch-Gladbach bevor, denn Anna musste für drei Tage nach Lübeck. Also wurde der ganze „Vogelbau“ in den Kofferraum gepackt und zu Annas Kollegin Vicki geschafft, die bis Sonntagabend die Pflege übernehmen sollte. Es hat auch dort alles wunderbar geklappt, und am Sonntagabend war das Hallo sehr groß, als Anna wieder zurückkam. Das Gepiepe wurde immer lauter und auf Annas leises Flöten hin haben die beiden immer ganz aufgeregt geantwortet.
21. Mai 2003
Morgen muss Anna wieder zu ihrer Ausbildungsstelle, also müssen jetzt die Eltern ans Werk. Wir sind von Arnsberg/Westfalen über die A 45 und dann die A 4 bis nach Gummersbach gefahren. Dort haben wir uns mit Anna getroffen, die uns die Beiden dann in einem Schuhkarton übergeben hat. Dieser wurde vorsichtig in den Fußraum gestellt und dann ging die Fahrt wieder zurück nach Arnsberg. Zwischendurch habe ich (Gernot) immer wieder leise geflötet und prompt kamen dann die Antworten aus dem Schuhkarton.
In Arnsberg angekommen, ging der Umzug aus diesem Karton in den organisierten Käfig ohne Probleme vonstatten. Nun standen die beiden Kleinen bei uns in der Küche und machten sofort ein Riesengezeter, als ich mit einem umgedrehten kleinen Löffel auch nur in die Nähe des Käfigs kam. Sobald ich die Tür des Käfigs öffnete, verfolgten sie mich durch die ganze Küche, flogen mir auf die Schulter und die Hände, an deren Ende ja das leckere Futter auf sie wartete.
23. Mai 2003
Gestern Abend hat Anna angerufen und uns gesagt, dass man auf der Webseite des Fernsehsenders VOX etwas über das Aufziehen und das Auswildern von Wildvogeljungen erfahren könne. Also jetzt wurde sich dort informiert und der Link zur Wildvogelhilfe war schnell gefunden. Ab jetzt haben wir den Käfig auf unseren Balkon gestellt und so präpariert wie empfohlen. Ein Anflugbrettchen innen und außen, mit dem entsprechenden Futter usw. …
Mittlerweile haben wir in einem Zoofachgeschäft darüber hinaus winziges, kleines Körnerfutter erworben und es hat auch mit dem Schälen durch die kleinen Schnäbel schon geklappt.
Aber heute war dann doch fast ein Trauertag: Bei dem Öffnen der Käfigtür, um Wasser in den Käfig stellen zu können, hat einer der Beiden wohl die einmalige Chance gesehen, jetzt schon in die Freiheit zu kommen. Wie der Blitz schoss er an meiner Hand vorbei. Auf Nimmerwiedersehen verschwand er in den Obstbäumen unseres Gartens und ward nicht mehr gesehen. Hoffentlich schafft er es.
24. Mai 2003
Ich habe den Käfig zum Füttern danach immer in die Küche geholt. Das Aufzuchtfutter wurde nach wie vor gern von dem Löffelstiel angenommen, aber als neue und unwahrscheinlich beliebte Nahrungsquelle entpuppte sich dann der mit dem Löffelstiel geschabte Apfel. Dies war für unseren Gast offenbar eine solche Delikatesse, dass er von dem Aufzuchtfutter immer weniger genommen hat. Und jetzt kam etwas, das ich mir nicht erklären konnte: Nach einer gewissen Zeit der Fütterung mit dem Löffelstiel, ich denke er war dann auch satt, attackierte unser mittlerweile zu einem stattlichen Vogel herangewachsener Nestling den Löffel, so als wollte er damit zum Ausdruck bringen „nun ist es genug“.
In der gesamten Zeit, während der Käfig in der Küche oder auf dem Balkon gestanden hat, habe ich wieder und wieder leise gepfiffen. Als Antwort kam dann jedes Mal das „Tschilpen“ wie bei den Spatzen, auch schon sehr laut und aufgeregt. Dass der Kleine kein Spatz war, konnte man natürlich deutlich erkennen. Wir haben uns nach dem Studium der verschiedenen Bücher dann zu einem „Erlenzeisig“ als Bestimmung entschlossen. Wie sich später herausstellen sollte, war dies jedoch nicht richtig, wir hatten einen kleinen Grünfinken in unserer Obhut.
31. Mai 2003
Heute ist es so weit, Jok-Jok (so haben wir ihn in Erinnerung an ein Kinderbuch genannt, in dem von einem Vogelkind erzählt wird: Jok-Jok – Ich bin ein Junges) wird heute ausgewildert – welch ein Wort für so ein zartes Geschöpf. Meiner Frau Karla und mir war ja schon bei dem Gedanken daran fast schlecht. Um 9:30 Uhr haben wir uns neben ihn auf den Balkon gesetzt, sämtliche Türen des Käfigs geöffnet und es passierte gar nichts!
Jok-Jok blieb in seinem Käfig und macht überhaupt keine Anstalten, herauszukommen. Also habe ich den kleinen Löffel geholt, etwas Apfel geschabt, leise gepfiffen und dann war er auf der „Türschwelle“ seiner Wohnung. Ein kurzer Flügelschlag und er saß oben auf dem Käfig. Hier hatten wir inzwischen auch das Futter abgestellt, ebenso Wasser zum Trinken und vielleicht ja sogar zum Baden?
Nach einer guten Stunde, in der er ganz interessiert in der Gegend herumgeschaut, sich die Federn geputzt und ab und zu ein paar Samenkörner gefressen hat, ist er dann – uns blieb fast das Herz stehen – in die Esche geflogen, die ca. 10 Meter entfernt in unserem Garten steht. Dort saß er und hat ständig dieses Tschilpen hören lassen. Man hätte meinen können, er wollte uns damit sagen: Ich bin noch da. Es hat nicht lange gedauert, bis er schließlich wieder zurückkam und sich doch tatsächlich in den Käfig gesetzt hat.
Wir waren eigentlich sprachlos. Nun haben wir uns aber überlegt, dass der Platz des Käfigs hier oben auf dem Balkon nicht so ganz günstig wäre, da es bei Regen über dem Käfig keinen Schutz gibt, wenn er vielleicht die Nacht dort verbringen sollte. Also haben wir den Käfig auf unserer Terrasse unterhalb des Balkons angebracht. Dort war es trocken. Jok-Jok hat die Nacht tatsächlich in dem Käfig verbracht, wir haben jedoch die Türen geschlossen.
01. Juni 2003
Heute Morgen haben wir die Türen geöffnet und unser Gast ist sofort herausgekommen. Er hat sich an dem Futter gütlich getan, welches auf dem Käfig stand. Auch von dem Wasser hat er genommen und nach kurzer Zeit begann er die Erkundung der näheren Umgebung unseres Gartens. Immer hat er sein für ihn so typisches Tschilpen hören lassen. Er kam auch in regelmäßigen Abständen zurück, um zu fressen.
Wir haben es uns auf der Terrasse gemütlich gemacht und fast hätten wir es übersehen, als er schließlich tatsächlich sein erstes Bad in dem Wassertöpfchen genommen hat. Zum Abtrocknen und zur Gefiederpflege ist er anschließend in unseren Knöterich geflogen, der an unserer Pergola rankt.
Wenn wir von anderen Aktivitäten wieder nach Hause kamen, führte uns unser Weg zunächst auf die Terrasse und ich habe stets leise geflötet. Aus irgendeinem Winkel unseres Gartens beziehungsweise der Nachbargärten kam prompt die Antwort und es dauerte auch keine Minute, dann flog er wieder in Richtung seines Käfigs. Als Anflugplatz hat er immer einen Teil unserer Pergola genommen. Wenn wir uns auf unserer Terrasse aufgehalten haben, stellten wir fest, dass die Ausflüge zusehends länger wurden. Am 6. oder 7. Juni haben wir ihn zusammen mit einem anderen Vogel seiner Art bei uns im Garten gesehen, allerdings flog er nur allein auf den Käfig, um sich seine Samenkörner zu holen.
Mit zunehmender Dauer seiner Auswilderung wurde er uns gegenüber scheuer. Sobald jemand von uns auf die Terrasse kam, während er auf dem Käfig saß, flog er ein paar Meter weg, kam dann aber wieder zurück, um weiter zu fressen.
Diese Art des „Wildwerdens“ verstärkte sich fortan mehr und mehr. Sobald er merkte, dass wir ihm zu nahe kamen, flog er weg und kam – so lange wir uns auf der Terrasse aufhielten – nicht wieder zurück. Darüber sind wir eigentlich sehr glücklich, denn dies ist der Beweis dafür, dass es ihm gut geht. Die Futterstelle auf dem Käfig haben wir regelmäßig überprüft und konnten anhand der verstreuten Samenkörner feststellen, dass er zum Fressen da war.
Heute ist der 3. Juli 2003.
Am 1. Juli 2003 haben wir das letzte Mal festgestellt, dass er sich Futter geholt hat, seitdem aber nicht mehr.
Viel Glück in der Freiheit, Jok-Jok.
Es war eine sehr schöne und aufregende Zeit.