Was wissen wir vom Leben?

Gastbeitrag von Anna Hellbig, Frühling 2004 (mit Bildmaterial anderer Fotografen)

Weiblicher Haussperling, © dimitrisvetsikas1969 / Pixabay
Weiblicher Haussperling, © dimitrisvetsikas1969 / Pixabay

Ich hatte vor Jahren eine Spätzin namens Sahra. Damals wusste ich noch nichts vom (vernünftigen) Auswildern. Natürlich waren meine Tiere nie alleine, ich habe immer irgendwie einen Artgenossen „organisiert“, der auch gestrandet war.

Sahra hatte einen Schlaganfall erlitten, sich davon erholt, aber nicht mehr vollständig, und sie hatte sich danach angewöhnt, hinter dem Küchenschrank zu schlafen. Jeden Abend zog sie sich also zurück und so wunderte ich mich nicht, als ich sie eines Abends im Zimmer bei den anderen nicht sah. Ich dachte, Sahra ist schon schlafen gegangen.

Am nächsten Morgen wollte ich sie wie immer wecken, indem ich an den Küchenschrank klopfte und „Guten Morgen, Sahra“ sagte. Sie kam nicht. Küchenschrank abgerückt, keine Sahra. Sie lag zwischen den Pflanzen, tot, und meines Erachtens musste sie abends gestorben sein, die Augen waren schon vertrocknet. Sie sah schrecklich verkrampft aus und ich habe ewig immer wieder mal geheult, und es tat so weh, weil sie wahrscheinlich unbemerkt neben mir gestorben ist, während ich ahnungslos in die Glotze geguckt habe. Ich habe mir deshalb so große Vorwürfe gemacht.

Daran habe ich immer und immer wieder denken müssen, dass ich mich nicht von ihr verabschieden konnte und in ihrer Todesstunde nicht bei ihr gewesen bin.

Aufgeplustert und geschwächt ist dieser weibliche Haussperling, © dimitrisvetsikas1969 / Pixabay
Aufgeplustert und geschwächt ist dieser weibliche Haussperling, © JosepMonter / Pixabay

Ein Jahr später fiel mir ein kleines Spätzchen praktisch vor die Füße – total belebte Straße und das Kleine sah schon krank aus, also habe ich es mitgenommen. Es war auch krank, wie sich schnell herausstellte, eine seltene Magenkrankheit. Ich hatte es Ruby genannt, aber seltsamerweise versprach ich mich von Anfang an immer wieder und sagte Sahra zu dem Kleinen. Es sah auch wie Sahra aus, hörte auf Sahra, nicht auf Ruby (möglicherweise Einbildung).

Leider war ihm nicht zu helfen. Eigentlich kenne ich es nur so, dass sich sterbenskranke Vögel zurückziehen, um Ruhe zu haben, aber dieses Vögelchen suchte geradezu verzweifelt meine Nähe. Ich musste es abends mit ins Bett nehmen, so schwach es auch war, es gab keinen Frieden, bevor es nicht ganz dicht bei mir sitzen konnte.

Ich hatte mich dann zum Einschläfern entschlossen, es ging nicht mehr anders, sagte noch zu mir, „so, jetzt gehe ich mich duschen und dann muss es sein …“ Aber aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich das Gefühl, ich müsste noch schnell nach Sahra/Ruby sehen, obwohl ich es gerade zuvor schon getan hatte. Und Sahra/Ruby lag im Sterben. Sie starb in meiner Hand, es war schrecklich anzusehen und als sie tot war, lag sie so verkrampft in meiner Hand, wie ich ein Jahr zuvor meine Sahra gefunden hatte.

Ich habe das erst mal verdrängt, aber später kam mir der unheimliche Gedanke, dass Sahra zurückgekehrt war, nur um sich von mir zu verabschieden, vielleicht wollte sie das genauso sehr wie ich.

Was wissen wir schon wirklich vom Leben? Die meisten Leute denken, es müsste so und so lange andauern und diesen und jenen Sinn haben, aber vielleicht ist der Sinn manchmal nur, dass man kurz zurückkehrt, um etwas Bestimmtes mit jemandem Bestimmten zu regeln. Egal, ob Mensch oder Tier. Ich denke, wir leben sowieso immer, nur auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen energetischen Zuständen. Vielleicht wissen wir eines Tages mehr über das Leben, sofern wir unsere lineare Denkweise mal zeitweise beiseite lassen können. Vielleicht bin ich auch nur ein wenig verrückt …