Wie ich auf Vögel geprägt wurde

Gastbeitrag von Anna Hellbig, Frühling 2004 (mit Bildmaterial anderer Fotografen)

Bitte beachten Sie: Dieser Gastbeitrag ist keine Anleitung zur Aufzucht, Ernährung und Unterbringung von Wildvögeln. Lesen Sie zu diesen Themen bitte unsere entsprechenden Kapitel unseres Internetprojekts, siehe Navigationsleiste oben auf der Seite.

Dies ist meine ganz persönliche Geschichte darüber, wie ich für alle Zeiten „auf Vögel“ geprägt wurde.

Junger Haussperling, © Isabella Draber
Junger Haussperling, © Isabella Draber

Als ich neun Jahre alt war, versuchte ich einen kleinen Spatzen aufzuziehen – mein erster Kontakt zu einem Wildvogel. Einen ganzen Tag lang hatte er auf dem Balkon der Nachbarn herumgepiept, doch kein Elternvogel kam, um ihn zu füttern.

Ich hatte natürlich keinerlei Ahnung, wie man mit so einem kleinen Kerlchen umgeht, aber ich kümmerte mich mit aller Liebe und Hingabe um ihn, nachts schlief er neben mir auf dem Kopfkissen.

Nach einer Woche, früh am Morgen, starb der kleine Spatz. Ich hielt ihn in seinen letzten Minuten in meiner Hand und weinte herzzerreißend. Meine Mutter hatte keine Zeit, sich um mich und den toten Spatzen zu kümmern, sie musste zur Arbeit.

Ich hockte auf dem Boden mit dem Vogel in der Hand und heulte und heulte. Nach einiger Zeit kam die Nachbarsfrau, die einen Wohnungsschlüssel von uns besaß und fragte mich besorgt, was denn um Himmels willen los sei, dass ich das ganze Mietshaus zusammenheulte. Ich erklärte es ihr, worauf sie verständnislos die Achseln zuckte und erwiderte: „Ach so, und ich dachte schon es wäre etwas Schlimmes passiert. Na, dann beeil dich mal, damit du nicht zu spät in die Schule kommst!“

Ich trauerte lange um dieses Spätzchen, so lange, dass sich die Erwachsenen fragten, ob das denn noch „normal“ sei. Ich musste leider feststellen, dass mich eigentlich niemand verstanden, kein Erwachsener und kein Kind. Zu allem Überfluss musste ich mit ansehen, wie die hexenähnlich Hauswartsfrau das von mir liebevoll gestaltete Vogelgrab auf dem Hinterhof zerstörte und die kleine Leiche, Verwünschungen zischelnd, in die Mülltonne warf.

Das war meine unglaublich traurige erste Erfahrung mit einem Vogel und ich denke, so verschieden wie die Menschen sind, so unterschiedlich wären die Reaktionen auf ein solches Erlebnis. Manch ein Kind hätte daraufhin vielleicht die Einstellung entwickelt: „Vögel? – NIEMALS MEHR!“ Ich hingegen kann seit diesem Sommer die Augen und die Finger nicht mehr von Vögeln lassen. Ich bin auf Vögel „geprägt“!

Diese vollständig befiederte junge Amsel kann noch nicht fliegen, wird aber noch von ihren Eltern gefüttert, © Gaby Schulemann-Maier
Diese vollständig befiederte junge Amsel kann noch nicht fliegen, wird aber noch von ihren Eltern gefüttert, © Gaby Schulemann-Maier

Ein Jahr später machten mich Spielkameraden auf „Linse“ aufmerksam. Linse war ein Amselkind und hockte in unserer Straße unter einer Akazie. Ob das kleine Federbällchen wirklich hilfsbedürftig war, kann ich heute nicht mehr beurteilen. Möglicherweise habe ich ihn den Eltern ohne Grund entrissen, denn auch ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, ein Vogelkind, das man irgendwo auf der Straße sieht, ist grundsätzlich ein verlassenes Vogelkind und braucht in jedem Fall menschliche Hilfe, um überleben zu können.

Als Linse fliegen lernte, verletzte er sich einen Flügel und konnte in der Folge nur noch flattern oder ganz kurze Strecken per Flügel zurücklegen. Für Linse lernte ich es, Regenwürmer zu „ziehen“ und hatte bei dieser Tätigkeit immer rege Unterstützung von Kindern aus der Nachbarschaft. So viele Regenwürmer, wie „gezogen“ wurden, mochte Linse dann gar nicht essen.

Linse beherbergte eine Armee von Milben. Ich ekelte mich kein bisschen vor den flinken Winzlingen, die aus Linses Gefieder flohen und meine Arme entlang hasteten, aber mir war klar, dass ich Linse irgendwie davon befreien musste. Meine ältere Schwester hatte einige Monate zuvor ein Kind bekommen. Ich organisierte einen Stapel Kochwindeln. Je morgens und abends faltete ich eine Windel zu einem Nestchen zusammen und setzte Linse hinein. Die Milben verkrochen sich in den Falten der Windeln, die ich dann nur noch auszukochen brauchte. In kurzer Zeit war Linse milbenfrei.

Ich fütterte Linse mit Hilfe eines Holzstäbchens. Das war zwar umständlich, aber eine handelsübliche Pinzette wollte ich wegen der scharfen Ecken nicht verwenden. Eines Morgens beim Füttern passierte etwas Schreckliches: Linse riss mir das Futterstäbchen aus den Fingern und schluckte es hinunter!

Ich war starr vor Angst und befürchtete das Allerschlimmste – meine Linse, mein geliebtes Vögelchen würde nun sterben. Nach einer Weile guckte Linse nachdenklich, reckte das Hälschen mit geöffnetem Schnabel und würgte das Futterstäbchen heraus. Ich war überglücklich.

Linse hat mir auch unmissverständlich beigebracht, wie wichtig es sein kann, die Augen vor neugierigen Schnäbeln zu schützen: Ich hielt Linse auf meinem Finger, ganz dicht vor dem Gesicht und „unterhielt“ mich mit ihm und hatte plötzlich seinen Schnabel im Auge. Das tat höllisch weh, aber Linse hatte nur den inneren Augenwinkel erwischt. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er mich mitten ins Auge gepiekt hätte.

Junge Amsel, © Tanja Kahlert
Junge Amsel, © Tanja Kahlert

Dann waren die Sommerferien zu Ende und ich weigerte mich, in die Schule zu gehen, denn es gab niemanden, der Linse während meiner Abwesenheit gefüttert hätte. Also führte meine Mutter ein ernsthaftes Gespräch mit meinem Klassenlehrer und er erlaubte mir, Linse mit in den Unterricht zu bringen.

Ganz brav saß Linse in den Schulstunden in einem Käfig auf der Fensterbank, döste, träumte und lauschte den ungewohnten Geräuschen. Wenn ich Linse in den Pausen fütterte, war ich umringt von meinen Mitschülern und alle lernten Biologie praxisnahe, die mutigsten reichten Linse auch mal einen fetten Regenwurm.

Einmal bemerkte ich morgens, dass Linses Rachen ungesund knallig rot aussah und sein Stimmchen nur ein heiseres Krächzen war. Ängstlich suchte ich mit Linse den nächstgelegenen Tierarzt auf, ohne zu wissen, dass ich an einen „Promi-Tierarzt“ geraten war. Die Praxis lag in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms. Die Wände des Wartezimmers waren mit Fotos freundlich lächelnder Promis mit ihren Hunden, Katzen und Papageien geschmückt. Mich beeindruckte das alles nicht, ich war allerdings ziemlich stolz, als der Tierarzt mich ausführlich lobte, wie fürsorglich und umsichtig ich mich um Linses Wohl kümmerte und das alles ganz alleine!

Linse bekam ein Pülverchen und zum Glück war er bald darauf wieder gesund. Seit meinen Tierarztbesuchen wusste ich natürlich, dass ich Tierärztin werden würde.

Amselmännchen, © bernswaelz / Pixabay
Amselmännchen, © bernswaelz / Pixabay

Nach der ersten Mauser war auch klar, dass Linse ein ER war, sein Gefieder wurde nachtschwarz und sein Schnabel färbte sich orange. Zu sehen, wie aus dem knuffigen Federbällchen eine schöne Amsel wurde, war für mich ein unbeschreibliches Wunder. Leider mauserte Linse seine Kopffedern nicht nach und sein Köpfchen wurde völlig kahl.

Wenn meine Geschwister mich ärgern wollten, nannten sie Linse „Geierwally“, was mich fuchsteufelswild machte. Im folgenden Frühjahr legte sich Linse eine wunderschöne „Matte“ zu und von nun an war es vorbei mit „Geierwally“.

Wie bereits erwähnt, konnte Linse nicht fliegen. Wir wohnten in einer sehr ruhigen Gegend mit vielen Schrebergärten und wenn ich zum Spielen hinaus ging, nahm ich Linse mit. Er saß in den Fliederbüschen oder lief über die Wiesen, meist hockte er aber auf meiner Schulter.

Linse war sehr zahm, er war „mein“ Vogel, für mich war das damals in Ordnung so und ich vermutete nicht, dass Linse etwas fehlen könnte. Linse war sicher nicht unglücklich bei mir, aber er konnte nicht leben, wie es seiner Art entsprochen hätte. Wenn er auf dem Balkon saß in der Abenddämmerung und sein trauriges Amsellied sang, dann sehnte er sich möglicherweise nach einem Leben, dass er nicht kannte.