Drei Grauschnäpper-Küken

Fotos und Autorin des Sonderbeitrags: Jana Kliche, 2007 und 2011

Diese Geschichte ist keine Anleitung zur Aufzucht, Ernährung und Haltung von Wildvögeln! Lesen Sie zu diesen Themen bitte unsere entsprechenden Kapitel! Es handelt sich bei diesem Text um subjektive Erfahrungsberichte, die durchaus Fehler enthalten können.

… die hat einen Vogel!

Drei junge Grauschnäpper, © Jana Kliche
Drei junge Grauschnäpper, © Jana Kliche

… das mag mancher gedacht haben, wenn er mich im Garten stehen sah – mit Fliegenklatsche bewaffnet, den Fang im Schraubglas „frischgehalten“, Grashüpfer fangend …. Und recht hat er!

Samstag im Juni: Bei der Gartenarbeit fällt mir auf, dass aus dem Meisenkasten ununterbrochenes Rufen zu hören ist. Die Jungen der Grauschnäpper, die zu unserer Überraschung im Meisenkasten gebrütet hatten, scheinen bald flügge zu sein. Warum sonst sollten sie solchen Lärm vollführen? Ich schaue immer mal nach: immer das gleiche Rufen. Müssten die Jungen nicht auch mal still sein? Von den Meisen kenne ich das anders, die machen nur Lärm, wenn sie hungrig sind oder die Eltern begrüßen. Aber ich sehe keine Elternvögel. Wie oft müssten die kommen, um zu füttern?

Sonntag: Das Rufen aus dem Nistkasten erscheint mir allmählich sonderbar, ich beobachte den ganzen Tag den Kasten – keine Eltern … Aber das Futterbringen geht so schnell – vielleicht habe ich sie nur übersehen. Am Nachmittag stelle ich eine Liege direkt unter den Baum und zusammen mit meinem Sohn beobachte ich über eine Stunde ununterbrochen das Einflugloch. Es kommt kein Elternvogel! Die Jungen stecken ab und zu den Schnabel aus dem Loch, um noch lauter zu rufen. Wir beobachten die Umgebung, sehen aber keinen Altvogel. Als es zu dämmern beginnt, stellen wir eine Leiter in den Baum und sehen nach (zum Glück hat dieser Nistkasten ein abnehmbares Dach). Fünf kleine Grauschnäpper, die schon ein schönes Federkleid haben, reißen ihre gelben Schnäbel auf: Hunger!

Die ganze Familie geht auf Insektenjagd. Außerdem sammeln wir kleine Regenwürmer (dass man die nicht verfüttern soll, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht). Dann füttern wir die Jungen im Nistkasten mit einer Pinzette – sie haben wahren „Bärenhunger“. Als sie endlich satt sind, zieht Ruhe im Nistkasten ein. Wir lassen sie in ihrem Nest. Wenn morgen früh kein Elternvogel zu sehen ist, werden wir etwas tun müssen. Ich fange am Abend an, im Internet zu recherchieren.

Geretteter junger Grauschnäpper, © Jana Kliche
Geretteter junger Grauschnäpper, © Jana Kliche

Montag 5:30 Uhr: Ich lausche in den Garten. Aus dem Nistkasten kommt erstes leises Rufen. 6:00 Uhr – das Rufen ist so laut wie am Vortag. Kein Elternvogel zu sehen. 6:30 Uhr – mein jüngster Sohn und ich stehen unter dem Birnbaum. Das Rufen kommt nicht mehr aus dem Nistkasten. Wir fangen an zu suchen. Den ersten Jungvogel finden wir fast trocken (es regnet) unter großen Blättern im Beet. Den zweiten pitschnass unter dem Zaun, den dritten völlig unversehrt in der Schutzhütte im Meerschwein-Freigehege. Den vierten nach langem Suchen fast leblos mitten in der Wiese – er stirbt wenige Minuten später. Den fünften können wir schließlich nur noch tot aus dem Nistkasten holen.

Drei hungrige Grauschnäpper, © Jana Kliche
Drei hungrige Grauschnäpper, © Jana Kliche

Wir setzen die drei Überlebenden in ein „Nest“ aus Küchentüchern in eine große Kiste und bringen sie in den warmen Heizungskeller. Dann gibt’s Futter: Insekten frisch gesammelt. Und das von nun an jede Dreiviertelstunde – eine echte Sisyphosarbeit. Am Nachmittag übernimmt mein Jüngster diese verantwortungsvolle Aufgabe. Ich muss losfahren, um Futter zu organisieren. Denn wenn ich immer erst die Ration für drei hungrige Schnäbel fangen muss, sprengt das meine Zeiteinteilung und alle Arbeit bleibt liegen!

Ich kaufe kleine Heimchen und Pinkies (die ich dann kochen muss – igitt) und Vitamintropfen im Zooladen. Sämtliche Ameisenhaufen im Garten werden geplündert. Die nerven mich sowieso immer, wenn sie mich beim Ernten beißen. Ameisenpuppen sind hervorragendes Jungvogelfutter. Eine große Hilfe war mir bei der richtigen Herangehensweise die Internetseite Wildvogelhilfe.org. Dort findet man wirklich alle wichtigen Hinweise – weshalb ich später diesen Beitrag zur Seite beisteuern wollte.

Dienstag, 2. Füttertag – die drei bekommen von 6:00 Uhr bis 21:00 Uhr alle Dreiviertelstunde Futter, sie rufen, wenn ich den Karton öffne. Sind sie satt, machen sie ihre kleinen Augen zu und kuscheln sich in das Serviettennest. Langsam haben sie wieder genug Kraft, um für das Geschäftchen den kleinen Bürzel über den Nestrand hinauszuschieben und wir müssen nicht alle paar Stunden ein neues bauen.

Die Grauschnäpper in ihrer begrünten Karton-Voliere, © Jana Kliche
Die Grauschnäpper in ihrer begrünten Karton-Voliere, © Jana Kliche

Die erste Woche – langsam gehe ich zu einem einstündigen Fütterungsmodus über. Die Kleinen fangen an, auf den Nestrand zu hüpfen, wenn ich die Fliegengaze von der Kiste nehme. Nach ein paar Tagen fliegt der erste auf den Schüsselrand, um schneller zu seiner Ration zu kommen. Wir bauen aus einem großen Verpackungskarton eine „Voliere“, die wir in einem unbenutzen Raum direkt ans Fenster stellen. Die Fenster sind gekippt, so können die Vögel immer hören, was draußen los ist, bekommen Morgensonne und haben sonst Ruhe. Recht ungeschickt hocken die drei anfangs noch auf den Ästen. Nachts schlafen sie wieder aneinander gekuschelt auf dem Boden.

Ich versuche, die Vögel an eine Futterschale zu gewöhnen. Aber keiner akzeptiert das bereitgestellte Futter – alle sperren die Schnäbel auf.

Der junge Grauschnäpper wartet auf Futter, © Jana Kliche
Der junge Grauschnäpper wartet auf Futter, © Jana Kliche

Drei Tage später hat der erste kapiert. Er pickt sich die leckeren Würmchen aus der Futterschale, lässt sich jedoch auch weiterhin gern füttern. Die beiden anderen brauchen für diesen Fortschritt noch weitere drei Tage. Ich versuche, ihnen Wasser schmackhaft zu machen. Beim ersten Tropfen, den sie mir vom Finger nehmen, sind alle völlig überrascht. Es dauert mehrere Tage, bis sie selbstständig Wasser trinken können.

Die Vögel sollen gut fliegen können, bevor ich sie freilasse. Also bauen wir noch mal eine richtig große Kartonvoliere als Flugübungsplatz. Den stellen wir von nun an immer tagsüber ins Freie. Am ersten Tag sitzen die drei wie erstarrt auf ihrer Stange. Erst am nächsten Tag fressen sie wieder mit Appetit. Nach drei Tagen endlich sitzen sie angstfrei da und genießen die warmen Sonnenstrahlen – und endlich geht auch mal einer baden.

Nach wie vor fangen wir Insekten für unsere kleinen Gäste – aber nun lebend, damit die Vögel das Jagen lernen. (Das schnelle Zupacken, ohne die Fliegen zu erdrücken, war für mich eine echte Konzentrationsübung!) Bei den kleinen Schnäppern klappte das bald viel besser: Schon am zweiten Tag fürchteten sie sich nicht mehr vor den summenden „Mitbewohnern“. Erst von der Stange aus beobachten (Zeit lassen!), dann ein kurzer Sturzflug – erwischt!

Ein Grauschnäpper-Ästling, © Jana Kliche
Ein Grauschnäpper-Ästling, © Jana Kliche

Nach zwei Wochen sind die kleinen Grauschnäpper fit fürs Leben: Ihre Flügel haben kräftige Federn bekommen und ein kleines Schwänzchen ist ihnen gewachsen. Alle können perfekt auf den Ästen landen und gut fliegen. Alle fressen selbständig und baden mit großer Lust.

Ich öffne die Behausung und lasse sie in die Freiheit – mit sehr gemischten Gefühlen. Der Erste ist weg, schneller als man ‚fort‘ sagen kann. Der Zweite flattert erst mal ein paar Sekunden direkt über uns, dann setzt er sich aufs Dach. Der Dritte lässt sich Zeit. Er besieht sich erst die möglichen Landeplätze und beobachtet uns dann lange von der Dachrinne aus. Dann sind alle verschwunden. Werden sie es schaffen, werden wir sie wiedersehen?

Nach zwei Stunden höre ich vertrautes Rufen aus dem Garten. Ich suche. Im Birnbaum neben dem Nistkasten sitzt eines unserer Vogeljungen. Ich wundere mich. Hier ist er aus dem Nest gestürzt, sonst saß er nur im dunklen Inneren, und doch erkennt er es als sein Nest wieder? Aber ich wundere mich gleich noch mehr, denn kaum hat er mich gesehen. Kommt er herunter geflogen und setzt sich wenige Zentimeter neben mir auf die Wäscheleine – ständig mit dem bekannten „siiiee, siieee“.

Der junge Grauschnäpper ist fit für die Freiheit, © Jana Kliche
Der junge Grauschnäpper ist fit für die Freiheit, © Jana Kliche

Ich fotografiere ihn in Freiheit. Dann fliegt er in die großen Fichten. Das ist fortan sein Lieblingsplatz. Hier gibt es viele Insekten und die Bäume sind bei allen Vogelfamilien als Futterstationen sehr beliebt (bei uns brüten Spatzen, Blau-, Kohl- und Tannenmeisen und auch Wacholderdrosseln).

„Mein“ Schnäpper besucht mich noch mehrere Male an diesem Tag. Ich stelle überall Landehilfen im Garten auf. Außerdem baue ich die Vogeltränke höher. Der Kleine ist noch so unvorsichtig. Von vielen Vögeln weiß ich, dass immer einer von einem erhöhten Aussichtspunkt Wache hält, während der andere trinkt. Unser Schnäpper ist aber immer allein – keiner der ihn warnt, wenn die Katze sich anschleicht. Die Kartonbehausung hänge ich auf allen Seiten geöffnet an die Wand, sicher vor Katzen und hoffentlich auch vor Mardern. Hier stelle ich weiterhin Futter und Wasser bereit. Und der kleine Vogel kommt immer wieder zurück!

Ich sehe alle drei Schnäpperjungen im Baum sitzen, sie begrüßen sich, fliegen aber alle getrennt wieder weg. Unser Kleiner bleibt immer in der Nähe. Kaum sieht er mich, ruft er, als wollte er sagen: „Hier bin ich“. Er fliegt eine Ehrenrunde weit oben. Irgendwann landet er direkt neben mir. Er sperrt seinen Schnabel auf und will gefüttert werden. Ich gebe ihm ein paar Bröckchen. Dann ist er zufrieden und fliegt wieder weg.

So geht das tagelang. Kaum gehe ich in den Garten, kommt der Kleine. Er landet mehrfach sogar direkt auf meiner Schulter und piepst mich an. Er fängt sehr gut selbst Insekten – trotzdem kommt er noch immer zu mir. Einmal beobachte ich ihn, wie er im warmen Regen ein Bad nimmt. Dazu legt er sich auf die großen Kirschbaumblätter, in denen sich das Wasser sammelt, bis sein Bäuchlein pitschnass ist. Dann zieht er über ihm hängende Blätter herunter, damit das Wasser auch von oben auf ihn fließt. So einen nassen Vogel habe ich noch nie gesehen. Er flog dann in die trockene und sichere Voliere und saß da zwei Stunden, bis er wieder trocken war.

Die kleinen Schnäpper sind hervorragende Insektenjäger; im Zickzack fangen sie sogar Wespen. Und sie schließen Freundschaften mit anderen Vögeln. Einen sehe ich oft mit der kleinen Meisenfamilie. Der andere „spielt“ mit einem Zilpzalp.

Einer der Grauschnäpper suchte den Kontakt zu seinen menschlichen Zieheltern, © Jana Kliche
Einer der Grauschnäpper suchte den Kontakt zu seinen menschlichen Zieheltern, © Jana Kliche

Jetzt sind die Kleinen schon den vierten Tag (und die vierte Nacht) in Freiheit. Habe gestern morgen den Kopf zum Fenster rausgesteckt, um nach unserem Vogel zu sehen. Sofort hat er mich erkannt und landete wieder wenige Zentimeter neben mir, am Putz der Wand festgekrallt piepste er mich an.

Das Territorium, das unser anhängliches Vögelchen erkundet, wird nun größer. Er fliegt auch schon mal weiter weg und ist manchmal mehrer Stunden nicht sicht- oder hörbar. Auch ist er jetzt vorsichtiger. Er sitzt nicht mehr ewig auf dem Boden (um Grashüpfer zu fangen), sondern beobachtet die Lage erst einmal von einem sicheren Sitzplatz aus. Mich lässt er immer noch ganz dicht an sich herankommen. Mein Mann und die Kinder dürfen sich ebenfalls nähern. Kommt aber jemand zu dicht und will uns zum Beispiel fotografieren, wird er nervös und fliegt weg.

PS: unser armes Katerchen hatte seit dem Freiflug der Vögel leider Hausarrest. Er fängt zu gut Mäuse und würde auch kleine Grauschnäpper jagen.