Matjes – eine Erfolgsstory (3)

Gastbeitrag von Hilu Lalic, Juli 2003

Bitte beachten Sie: Dieser Gastbeitrag ist keine Anleitung zur Aufzucht, Ernährung und Unterbringung von Wildvögeln. Lesen Sie zu diesen Themen bitte unsere entsprechenden Kapitel unseres Internetprojekts, siehe Navigationsleiste oben auf der Seite.

Die vierte Lebenswoche.
Matjes entwickelt sich mit großer Schnelligkeit. Sein Schwanz wächst jeden Tag rund zwei Millimeter. Die Idee mit dem Wassertrog und der Futterschale während unserer Abwesenheit tags zuvor schien ihm zu gefallen. Er hat mir nun einen festen Fütterungsplatz vorgeschlagen. Eine kleine „Lichtung“ unter Farn mit einer Steingruppe, auf der er gerne sitzt oder sich auch mal zwischen den „Felsen“ versteckt.

Häufig sieht man ihn nun sich putzen. Er zupft an den Federkielen weißen Schorf und alles scheint fürchterlich zu jucken. Sein Gefieder wird gründlich imprägniert, indem er immer wieder mit dem Schnabel über die Talgdrüse an seinem Hinterteil fährt. Im Garten finden sich um diese Jahreszeit Holunderbeeren, deren Dolden mit reifen Früchten wir hier neben das Futter in den Boden steckten. Sein Futterplatz ist in unmittelbarer Nähe des Amselnestes, das von Elvis und Elvira II bebrütet wird. Komisch, ich gehe immer noch davon aus, dass Elvis der Vater von Matjes ist und manchmal begegnen sich die beiden oben im Efeu und sitzen sich dann minutenlang schweigend gegenüber … Auf jeden Fall sucht Matjes die Nähe des großen schwarzen Vogels mit den weißen Augenbrauen.

Regenwurmalarm.

Amsel Matjes in ihrem Versteck, © Hilu Lalic
Amsel Matjes in ihrem Versteck, © Hilu Lalic

Alles scheint prima zu laufen und doch: es gibt plötzlich ein Problem – Matjes mag keine Regenwürmer mehr! Allein schon der Anblick scheint ihm körperliche Schmerzen zu bereiten. Er flüchtet in sein Versteck und ist nur schwer wieder zu locken. Eine Amsel mit einer Regenwurmphobie? Ich war ratlos. Matjes stochert nun viel in lockerer Erde und frisst auch von dem losen Sand. Ein sicheres Zeichen für irgendwelche Magen-Darm-Probleme. Ich hatte kürzlich noch in einem sehr alten Gesundheitsbuch die Empfehlung gelesen, es den Vögeln gleich zu tun und ab und zu etwas abgekochten Sand zu essen, um den Magen zu reinigen. Gut, aber was soll aus unserem Matjes werden? Eine Amsel lebt nun mal hauptsächlich von Regenwürmern und ich kann ihn ja nicht ewig mit anderen Leckereien verwöhnen.

Merkwürdigerweise waren Mehlwürmer mittlerweile seine Lieblingsspeise. Da konnte er mal eben bei einer Fütterung bis zu zwanzig vertilgen und dann noch eine halbe Erdbeere. Ich bekam über das damals noch existierende Wildvogelhilfe-Forum eine E-Mail von Constanze, die ebenfalls eine Amsel aufzog und die mir berichtete, dass ihr Merlotto auch nicht mehr so doll auf Regenwürmer steht. Dies beruhigte mich etwas.

Mit Constanze konnte ich auch noch andere, für uns beide unerklärliche Verhaltensweisen aufklären. So hatten beide Vögel die Eigenart manchmal, und zwar ganz plötzlich, minutenlang in eine seltsame Starre zufallen und schmerzhaft hohe, lang anhaltende Piepstöne von sich zu geben. Dabei sitzen sie vorzugsweise auf dem Bauch. Constanze meinte, sie würden vielleicht Kontakt mit extraterrestrischen Amseln suchen – zumindest sah es so aus und wir wussten nun, dass es wohl vollkommen normal ist.

Bei Matjes hatte ich sowieso den Eindruck, dass er häufig bestimmte Situationen einfach nur übte. Manchmal rannte er wie von der Tarantel gestochen während der Fütterung plötzlich fort. Nach etwas Geschimpfe kam er aber bald wieder. Einmal traf ihn an einem heißen Tag ein Sonnenstrahl, der ihn förmlich „zu Boden zwang“. Er ließ sich auf den Bauch nieder und spreizte seine Flügel ganz weit während er den Kopf etwas schräg hielt und den Schnabel leicht öffnete. Sah beängstigend aus, war aber nur eine Übung, die er sich wohl bei Elvis abgeguckt hatte. Dem armen Kerl machte die Hitze nun wirklich zu schaffen und er versuchte sich so etwas Kühlung zu geben. Außerdem soll Sonnenbestrahlung für das junge Gefieder wie Vitamin wirken.

Ohne es zu wollen war Elvis ein guter Lehrmeister. Matjes lernt sehr viel von ihm, wenn er auch manchmal vielleicht noch nicht weiß wofür. So wird er wahrscheinlich erst nächstes Jahr begreifen, dass es praktisch ist, fünf Mehlwürmer gleichzeitig im Schnabel zu halten, wenn er dann selber seine eigenen Jungen füttern muss. Andererseits wird er durch den Kontakt mit den anderen auch immer scheuer, zumal die zwei neuen kleinen Amseln nun auch den Garten bevölkern und es insgesamt sehr unruhig wird. Elvis hat alle Schnäbel voll zu tun. Merkwürdigerweise sehen wir nicht seine Elvira II, und bald ist auch der zweite Jungvogel nicht mehr zu sehen … Elvis füttert nun das übriggebliebene allein.

Amsel Matjes auf dem Komposthaufen, © Hilu Lalic
Amsel Matjes auf dem Komposthaufen, © Hilu Lalic

Gegen Ende der laufenden Woche habe ich den Eindruck, dass Matjes immer ruhiger und müder wird. Ich habe deshalb darauf verzichtet, ihm Regenwürmern heimlich unterzuschieben und die Glibberdinger ganz weggelassen. Offensichtlich gefällt ihm das und sein Stimmchen wird wieder lauter. Er kommt jetzt nur noch alle zwei Stunden und ist nach dem Füttern auffallend erschöpft und sitzt lange unter den Pflanzen. Auch sehe ich ihn bis dahin nie Wasser trinken. Insgesamt aber mach ich mir Sorgen. Manchmal wirkt er kränklich und müde, dann wieder im nächsten Augenblick wie angeklickt total gut drauf.

Ich habe gegen Ende seiner vierten Lebenswoche den Futterplatz auf den Komposthaufen verlegt. Hier üben wir das Erlegen von Schnecken und Kellerasseln und das Aufstöbern von sorgsam versteckten Mehlwürmern. Das klappt auch schon recht prima. Mit der Pinzette klopfe ich in schnellem Stakkato auf die Erde und wühle ein bisschen. Magisch angezogen folgt er mir und scharrt mit den Füßen und pickt mit dem Schnabel, wobei er dem Tempo der Pinzette folgt: je schneller desto lieber. Dies bereitet ihm große Freude. Auch wird er zusehends selbstsicherer, so leistet er sich sogar eine kleine Prügelei mit Elvis, der sich in einem schwachen Augenblick schnell ein paar Beoperlen vom Futterplatz klauben wollte. Ich schöpfe wieder Hoffnung, nicht zuletzt durch Trost und gute Ratschläge vom Wildvogelhilfe-Forum.

Der Kleine ist im Augenblick in einer Lernphase und macht mir alles nach. Wenn ich meine Arme hektisch auf und ab bewege, macht er auch Turnübungen mit seinen Flügeln. Packe ich mit der Pinzette kleinere Steinchen, fängt Matjes auch an kirschsteingroße Felsen aus dem Weg zu räumen. Und dann etwas ganz erstaunliches: als ich mit der Pinzette in seinem Wassertrog Wellen schlage, um ihn zum Trinken zu animieren schaut er sich das eine Weile mit schrägem Kopf an und flattert dann quer durch den Garten zum fünfzehn Meter entfernten Badeteller, um ein Vollbad zu genießen. Ich kenne Hunde, die diese Leistung nicht erbringen.

Weiter geht es mit dem Kapitel Matjes – eine Erfolgsstory (4).