Rabenkrähe als Lockvogel
Beitrag von Dagmar Offermann, Team Wildvogelhilfe
Es war an einem Freitagabend im Juni 2006.
Das Telefon läutete, eine ältere Dame war am Apparat und sagte, sie habe einen Rabenvogel in ihrer Obhut, der artgerecht versorgt werden müsse.
Näheres Nachfragen meinerseits ergab, dass sie den Vogel in einem Waldstück in einer Lebendfalle entdeckt und samt Falle mit zu sich nach Hause genommen hatte. Ich zögerte nicht lange und bat sie, den Vogel zu mir zu bringen.
Einige Stunden später klingelte es und die Dame stand mitsamt dem in der Falle gefangenen Rabenvogel vor unserer Haustür.
Ich hatte noch nie einen Vogel, der in einer Falle sitzt, mit eigenen Augen gesehen und war nicht auf diesen Anblick vorbereitet: Eine kreisrunde Falle aus Metall, ganz in der Mitte, in einem winzigen „Abteil“, eine ausgewachsene Rabenkrähe.
Ein Blick in ihre Augen verriet, was sie durchlitten haben musste. Der Kopf und die Beine blank vom Scheuern an dem Gitter. Die Schwungfedern abgebrochen. Ihrem Naturell nach hätte sie wohl panisch sein müssen, aber entsprechende Bewegungen konnte sie nicht ausführen, hierzu war der ihr von ihrem Peiniger zugebilligte Raum zu begrenzt.
Wer mag ergründen, was dieses Tier gefühlt hat in seinem Gefängnis? Und wer mag ergründen, was im Kopfe und im Herzen eines Menschen vorgehen mag, der ein Lebewesen in eine Falle steckt, es in dieser mitten im Wald in die pralle Sonne setzt.
In mir regten sich etliche Fragen: Wen oder was wollte dieser Mensch in die Falle locken? Greifvögel, um sie in den Nahen Osten zu verkaufen? Füchse, um Geld mit ihrem Fell zu machen? Andere Rabenvögel? Wenn ja, warum? Tausend Fragen, keine Antworten …
Für mich war klar, dass diese Tierquälerei zur Anzeige gebracht werden musste. Auch wenn ich mir keine Überführung des Täters versprach, so sollte doch zumindest die Exekutive involviert sein, damit Recht auch Recht bleibt und Gesetze nicht in „Vergessenheit“ geraten.
Ich holte mir Unterstützung beim Komitee gegen den Vogelmord ein und die sehr engagierten Menschen dort wurden sofort tätig und erstatteten Strafanzeige gegen Unbekannt.
Im Herbst 2006 bekam ich Besuch eines Polizeibeamten, der die Falle als Beweismittel gesichert hatte. Leider habe ich bis heute nichts mehr gehört. Ich habe es ehrlich gesagt auch nicht erwartet.
Aber nun wieder zum Lockvogel selber:
Er hatte anfänglich große Schwierigkeiten in der Rabenvogelgruppe – er rannte permanent mit dem Kopf gegen die Wände und war nicht in der Lage, mit seinen Artgenossen in Kommunikation zu treten. Beim bloßen Anblick des menschlichen Pflegers reagierte er extrem panisch.
Nach einigen Monaten war er nicht nur in die Rabenvogelgesellschaft integriert, sondern sogar „Chef“ der Truppe. Sein Gefieder war nachgemausert, auf den ersten Blick erinnerte nichts an das Trauma, das er durchgemacht hat. Er wurde genauso fit wie die anderen Rabenvögel, die mit ihm gemeinsam in der Voliere auf den kommenden Spätsommer warteten, in dem sie zurück in die Freiheit – in das für sie bestimmte Leben – entlassen wurden.