Hauptzugrouten europäischer Vögel

Beitrag von Gaby Schulemann-Maier, Team Wildvogelhilfe

Im Spätwinter und Frühling sowie im Herbst ziehen unzählige Vögel über den europäischen Himmel, © YvonneH / Pixabay
Im Spätwinter und Frühling sowie im Herbst ziehen unzählige Vögel über den europäischen Himmel, © YvonneH / Pixabay

Der Himmel ist weit und grenzenlos. Dennoch verlaufen über unseren Köpfen regelrechte „Vogelzugstraßen“. Einige Flugkorridore werden demnach von den Zugvögeln ganz besonders ausgiebig genutzt, weil sie bestimmte Regionen miteinander verbinden, die für den Vogelzug entscheidend sind.

Um von Deutschland aus beispielsweise ins tropische Afrika zu gelangen, bräuchte ein Vogel theoretisch nur geradeaus nach Süden zu fliegen und gegebenenfalls einige hundert Kilometer vor dem Ende seiner Reise leicht nach Südosten zu schwenken. Entlang der Luftlinie fliegend, würden die Vögel zwar die kürzeste Strecke auf ihrem Weg ins Winterquartier zurücklegen. Dieser Weg würde sie aber in vielen Fällen über breite Bereiche des Mittelmeers führen. Deshalb wäre diese Route um ein Vielfaches strapaziöser und gefährlicher als andere Strecken, die einige Umwege über Land erfordern, insgesamt aber die Kräfte der Vögel schonen können, weil es Rastmöglichkeiten gibt.

In diesem Kapitel werden mögliche Zugwege der in Mitteleuropa heimischen Zugvogelarten vorgestellt, von denen jedoch nicht alle ausgiebig genutzt werden. Klicken Sie bitte auf die folgenden Listeneinträge, um zu den jeweiligen Beschreibungen zu gelangen.


Die direkte Route

Die Alpen sind für europäische Zugvögel eine natürliche Barriere, die oft umflogen wird, © domelaci / Pixabay
Die Alpen sind für europäische Zugvögel eine natürliche Barriere, die oft umflogen wird, © domelaci / Pixabay

Mit Hilfe einer Landkarte kann man die direkte Strecke von einem Punkt mitten in Deutschland, sagen wir Hannover, bis an die Küste des afrikanischen Staates Kamerun leicht nachvollziehen. Geht man diese Strecke in Gedanken aus Sicht eines Zugvogels durch, wird rasch klar, weshalb die direkte Route oft strapaziös sein kann. Die Strecke aus dem Gedankenbeispiel führt anfangs geradewegs über Deutschland hinweg in die Schweiz, wo sich die erste Barriere vor den Vögeln auftürmt: die Alpen. Diese zu überfliegen, würde für die teils weniger als 15 cm großen und wenige Gramm schweren ziehenden Singvögel einen immensen Kraftaufwand erfordern.

Nehmen wir an, sie hätten es geschafft, diese schwierige Bergetappe zu meistern. Danach ginge es weiter über Norditalien hinweg. Lange würde der Flug nicht ruhig und vergleichsweise ungefährlich bleiben, denn schon bald hätten die Vögel das Mittelmeer erreicht. Indem sie die Route über den Golf von Genua gen Süden wählen würden, wären sie in permanenter Gefahr, beim kleinsten Anfall von Schwäche abzustürzen und in den Wellen zu versinken. Einzig Korsika und Sardinien würden ihnen festen Boden unter den Füßen bieten, aber von dort aus bis nach Nordafrika erstreckt sich noch viel mehr Wasser vor den kleinen Reisenden.

In Tunesien angekommen, würde sich die Lage für die gefiederten Reisenden weiter zuspitzen – und das nicht einmal nur wegen der rund um das Mittelmeer üblichen illegalen Jagd auf Zugvögel. Auf ihrer Route durch Algerien, den Niger und Nigeria müssten sie eine der größten Wüsten der Erde überfliegen. Die Sahara erlaubt keine Schwächen, entlang der langen Strecke könnten die Vögel massenhaft der Hitze und dem Wassermangel zum Opfer fallen. Erst im klimatischen Einzugsbereich des Golfs von Guinea, also nur wenige Grad nördlich des Äquators, stünden wieder Trinkwasser und vor allem Nahrung, zum Beispiel in Form von Insekten, zur Verfügung.

Nur sehr wenige Vögel halten sich bei ihrer Reise in ihr Winterquartier an die direkte Route, sie wäre für die meisten Arten erheblich zu gefährlich.


Die ökonomischen Routen

Über den Felsen von Gibraltar kann man während der Zugzeiten zahlreiche Zugvögel beobachten, © Allan Watt via Flickr
Über den Felsen von Gibraltar kann man während der Zugzeiten zahlreiche Zugvögel beobachten, © Allan Watt via Flickr

Für Zugvögel ist das Ziel, lebend im Überwinterungsgebiet oder im Brutrevier anzukommen. Deshalb fliegen die meisten gefiederten Fernreisenden über Europa entlang der westlichen oder östlichen Hauptzugroute. Die westliche Route erstreckt sich von Deutschland aus über Frankreich, die Pyrenäen und anschließend über Spanien. Kurz- und Mittelstreckenzieher haben dann bereits ihre Ziele erreicht. Um in den afrikanischen Luftraum zu gelangen, wählen die Langstreckenzieher von Spanien aus die Route über die Straße von Gibraltar. Dort trennen nur wenige Kilometer Wasser die beiden Kontinente Europa und Afrika, weshalb dort im Frühling und Herbst ein sehr starkes Zugvogelaufkommen zu verzeichnen ist. Auch der Mensch profitiert davon. Gibraltar ist während der Hauptzugzeiten fest in den Händen der Vogelbeobachter. Wer beispielsweise Greifvögel wie die Wiesenweihe oder den Baumfalken aus nächster Nähe durch die Luft fliegen sehen möchte, sollte es sich auf den Felsen von Gibraltar mit seinem Fernglas gemütlich machen. Meist ziehen diese Vögel dutzendweise innerhalb weniger Minuten vorüber.

Viele europäische Zugvögel wählen die West- oder Ostroute, © Gaby Schulemann-Maier basierend auf einer Globus-Vektorgrafik von ClkerFreeVectorImages / Pixabay
Viele europäische Zugvögel wählen die West- oder Ostroute, © Gaby Schulemann-Maier basierend auf einer Globus-Vektorgrafik von ClkerFreeVectorImages / Pixabay

In Marokko angekommen, fliegen fast alle Zugvögel weiter in einem Bogen entlang der afrikanischen Küste nach Süden. Zahlreiche ziehende Küsten- und Wasservögel bleiben im Senegal und in Gambia, um dort an den Flüssen und in den weitläufigen Lagunen des Atlantiks zu überwintern. Manche andere Arten, darunter einige Singvögel, überqueren von Marokko aus die Sahara, um an ihr Zielgebiet im tropischen Zentralafrika zu gelangen. Dieses Teilstück der Westroute fordert zahlreiche Opfer unter den Tieren, denn die Wüstenpassage ist immer gefährlich.

Neben der beschriebenen Westroute existiert ferner eine östliche Strecke. Diese verläuft von Deutschland und den östlich liegenden europäischen Ländern aus nach Südosten beziehungsweise Süden. Das gedachte breite Band, das die Vögel passieren, erstreckt sich hauptsächlich über Österreich, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Griechenland. Sobald die Zugvögel den europäischen Teil der Türkei erreicht haben, überfliegen sie das Marmarameer – am liebsten an besonders engen Stellen – und dann das türkische Festland (Anatolien). Sie wählen dabei mitunter eine Strecke, die sie in einem sanft geschwungenen Bogen über das Land und anschließend über das Mittelmeer östlich von Zypern führt.

Bald darauf treffen die Vögel in Syrien ein, wo sie sich wieder in südliche Richtung orientieren. Sie überfliegen den Libanon und schließlich Israel, einen weiteren extrem wichtigen Knotenpunkt des Vogelzugs. In Israel kann man während der Hauptzugzeiten ähnlich wie in Gibraltar massenhaft Vögel beobachten. Alles, was unter den Zugvögeln Rang und Namen hat und die östliche Route bereist, rastet dort und tankt im Herbst ein wenig Kraft für den Weiterflug nach Afrika. Vom Weißstorch bis hin zu Sing- und Greifvögeln ist im Heiligen Land alles vertreten.

Kraniche (Grus grus) rasten in Israel am Agamon HaHula, © Flavio~ via Flickr
Kraniche (Grus grus) rasten in Israel am Agamon HaHula, © Flavio~ via Flickr

Nachdem die Zugvögel Israel verlassen haben, fliegen sie weiter nach Süden, bis sie den Sinai und das Rote Meer hinter sich gelassen haben. In Ägypten und im Sudan überqueren viele von ihnen die Sahara, einige wählen Äthiopien als Ziel und überwintern dort. Etliche Arten zieht es noch weiter in den Süden, sie überwintern beispielsweise in Kenia oder in den tropischen Regionen Zentralafrikas. So manche Art wie etwa die Rauchschwalbe fliegt sogar noch weiter bis nach Tansania. In Südafrika überwintern ebenfalls einige aus Deutschland angereiste Zugvögel.


Die Routen der Mittelmeer-Überwinterer

Auf Mallorca bietet unter anderem das Schutzgebiet S'Albufera vielen Zugvögeln gute Bedingungen für die Überwinterung, © Jari via Flickr
Auf Mallorca bietet unter anderem das Schutzgebiet S’Albufera vielen Zugvögeln gute Bedingungen für die Überwinterung, © Jari via Flickr

Einige Vogelarten benötigen zum Überwintern keine tropisch-heißen Temperaturen. Sie zieht es in die klimatisch milderen Gegenden Europas, also ans Mittelmeer. Sie finden beispielsweise auf einigen Inseln im Mittelmeerraum ein gutes Auskommen oder suchen die großen Feuchtgebiete in Spanien auf, darunter das Ebro-Delta. Um zum Beispiel von Deutschland aus nach Mallorca zu gelangen – auch bei Vögeln ist diese Insel ein beliebter Aufenthaltsort für den Winter -, umfliegen die meisten Zugvögel die Alpen und wählen anschließend den direkten Weg übers Mittelmeer. Auf der Baleareninsel finden sich viele geschützte Plätze, an denen die Tiere im Winter gut über die Runden kommen, darunter etwa das Feuchtgebiet S’Albufera.

Vögel, die im östlichen Mittelmeerraum überwintern, wählen in aller Regel ebenfalls eine möglichst direkte Route, ohne dabei zu große Hindernisse in Form von Gebirgen oder zu lange Streckenabschnitte über dem offenen Meer zurücklegen zu müssen. Hierfür fliegen sie Umwege, um danach wieder auf den direkten Weg zu gehen.