Nestflüchter, Nesthocker und Platzhocker

In den vergangenen Jahrmillionen hat die Evolution eine große Zahl unterschiedlicher Vogelarten hervorgebracht. Der Wissenschaft sind derzeit mehr als 11.000 Vogelarten bekannt, die auf der Erde vorkommen. Das Verhaltensspektrum sowie die Bedürfnisse der einzelnen Spezies weichen teilweise stark voneinander ab. Dies gilt unter anderem für die Brutpflege und das Gebaren der Jungtiere direkt nach dem Schlupf.

Da sich gewisse Verhaltensweisen jedoch grundsätzlich als ausgesprochen vorteilhaft und sicher erwiesen haben – es sind vor allem die Jungvögel, die durch Angriffe von Fressfeinden gefährdet sind -, haben sich artübergreifende Grundtendenzen herausgebildet. Jungvögel einheimischer Arten sowie von Spezies in aller Welt lassen sich deshalb in drei große Gruppen einteilen, die wir in diesem Kapitel vorstellen:


Nesthocker

junger Turmfalke, © Corinna Heinrich
junger Turmfalke, © Corinna Heinrich

Wie es der Name bereits vermuten lässt, sind Jungvögel dieser Kategorie sehr stark an ein Nest gebunden, sie bleiben mehr oder minder lang darin hocken – daher die Bezeichnung Nesthocker. Fast alle Jungvögel dieser Gruppe sind zum Zeitpunkt des Schlupfes nackt und blind, da ihre Augen noch geschlossen sind. Anfangs sind ihre Gehörgänge verschlossen und sie sind auf eine Wärmezufuhr von außen angewiesen, um überleben zu können. Sie werden von den Alttieren gefüttert.

Aufgrund ihrer Hilflosigkeit sind sie vor allem in der ersten Phase ihres Lebens außerhalb des Nestes nicht überlebensfähig. Sind sie noch nackt, würden sie sehr rasch auskühlen und erfrieren. Außerdem sind sie in dieser Phase noch nicht dazu in der Lage, sich selbst zu ernähren.

Nesthocker verlassen das Nest in aller Regel, wenn das Gefieder voll ausgebildet ist. Nicht alle können dann schon perfekt fliegen, die Flugfähigkeiten werden außerhalb des Nestes trainiert. Außerdem können die Nesthocker, die gerade eben das Nest verlassen haben, sich noch nicht selbstständig ernähren – eine Ausnahme hiervon bilden die Mauersegler, die nach dem Verlassen des Nestes sofort fliegen und selbst fressen können. Nahezu anderen Nesthocker sind nach dem Verlassen des Nests noch einige Zeit darauf angewiesen, von ihren Eltern mit Nahrung versorgt zu werden.

Vertreter der Gruppe der Nesthocker sind beispielsweise Störche, Tauben, Greifvögel, Segler, Spechte und alle Singvogelarten, also auch Vertreter der Rabenvögel.


Nestflüchter

Junge Gänsesäger, © Hermann Daum via NABU-naturgucker.de
Junge Gänsesäger, © Hermann Daum via NABU-naturgucker.de

Manche Vogelarten verlassen das Nest bereits unmittelbar nach dem Schlupf oder maximal ein bis zwei Tage danach. Weil sie regelrecht aus dem Nest flüchten, werden sie als Nestflüchter bezeichnet. Zu den Nestflüchtern gehören beispielsweise Schwäne, Enten, Gänse und Kraniche. Junge Nestflüchter sind beim Schlupf am gesamten Körper befiedert und sie können sich somit sofort bis zu einem bestimmten Grad selbst warm halten. Zudem sind sie dazu in der Lage, sofort zu laufen und zu schwimmen (Wasservögel). Ihre Augen und Ohren sind bereits voll entwickelt und geöffnet, was für sie überlebenswichtig ist, weil sie die Umwelt mit all ihren Reizen wahrnehmen müssen, um überleben zu können.

Für gewöhnlich unterlassen sie unter der Führung der Altvögel das Nest, zu dem die meisten Vogelarten anschließend nicht wieder zurückkehren – Ausnahmen hiervon sind beispielsweise die Teichhühner, die sich mitunter mit ihren Küken wieder ins Nest begeben, damit die Kleinen sich nach längeren Schwimmausflügen erholen und wärmen können.

Auch Nestflüchter, die nicht ins Nest zurückkehren, werden in den ersten Tagen noch von ihren Eltern gewärmt. Dafür setzen sich die Altvögel beispielsweise auf eine Wiese und lassen die Jungtiere unter ihre Federn klettern.

Die meisten jungen Nestflüchter nehmen sofort selbstständig Nahrung auf, das Wissen um geeignetes Futter ist ihnen größtenteils angeboren. So kann man beispielsweise junge Gänse dabei beobachten, wie sie noch das Laufen üben, aber schon erste Futterpflanzen probieren. Wasservögel, die ihre Nahrung tauchend finden, gehören ebenfalls zu den Nestflüchtern. Weil die Jungvögel einiger Arten in den ersten Lebenstagen noch nicht so gut oder gar nicht tauchen können, bringen ihnen die Eltern die Nahrung an die Wasseroberfläche.

Haben Sie einen jungen Nestflüchter gefunden, der Hilfe benötigt? Dann lesen Sie bitte das umfangreiche Kapitel über die Aufzucht von Individuen dieser Vogelgruppe.


Platzhocker

Junge Mantelmöwen, © David Nunn via Flickr
Junge Mantelmöwen, © David Nunn via Flickr

Platzhocker haben einige Gemeinsamkeiten mit Nesthockern, ohne dabei jedoch so stark wie sie an ein Nest gebunden zu sein, sondern viel mehr an dessen unmitelbare Umgebung. Sie bleiben in der ersten Phase ihres Lebens in der Nähe des Platzes, an dem sie geboren wurden und entfernen sich allenfalls einige Meter weit. Meist handelt es sich um Jungtiere von Bodenbrütern, die Küken hocken somit häufig am Boden oder im Gras.

Platzhocker-Jungvögel sind zum Zeitpunkt des Schlupfes mit Daunen befiedert und sehend; ihr Gehör ist ebenfalls voll entwickelt. Viele von ihnen können sofort laufen. Während der gesamten Wachstumsphase sind sie davon abhängig, von ihren Eltern mit Futter versorgt zu werden. Erst nachdem sie das Fliegen erlernt haben, werden sie selbstständig. Außerdem werden junge Platzhocker in der ersten Phase noch recht oft von ihren Eltern gewärmt, man spricht vom Hudern. Sie sind nach dem Schlupf trotz des vorhandenen Federkleids für einige Zeit noch nicht dazu in der Lage, ihre Körpertemperatur selbstständig zu regulieren und brauchen zwischendurch immer mal ein wenig Wärme.

Vertreter der Platzhocker sind beispielsweise Möwen und Seeschwalben.

Haben Sie einen jungen Platzhocker gefunden? Dann lesen Sie bitte das umfangreiche Kapitel über die Aufzucht von Individuen dieser Vogelgruppe.