Wurm, Weib und Gesang – was Brehm 1902 über die Amsel wusste

Gastbeitrag von Hilu Lalic, Juli 2003

Bitte beachten Sie: Dieser Gastbeitrag ist keine Anleitung zur Aufzucht, Ernährung und Unterbringung von Wildvögeln. Lesen Sie zu diesen Themen bitte unsere entsprechenden Kapitel unseres Internetprojekts, siehe Navigationsleiste oben auf der Seite.
Amselgrafik, © Sasha Lalic
Amselgrafik, © Sasha Lalic

Die Amsel, ein scheuer Waldvogel? Brehm schreibt vor hundert Jahren dazu:
„… noch im Jahre 1830 beschreibt ein gewisser Gloger die Amsel als einen ’sehr schüchternen, versteckt und einsam lebenden Waldvogel, der sich nie ohne Not ins Freie begebe und sich fast niemals auch nur auf einem höheren Baum zeige.‘ Die Waldvögel gebliebenen Amseln werden auch heute noch durch diese Schilderung trefflich gekennzeichnet, nicht mehr aber die immer wachsenden Scharen derjenigen, die allmählich in die Parks, Gärten und Anlagen bis inmitten der Ortschaften eingedrungen und hier vollständig heimisch und zu vertrauten Gästen der Menschen geworden sind.“

Kleiderordnung
„Das Gefieder des alten Männchens ist gleichmäßig schwarz, die Iris braun, der Augenlidrand hochgelb, der Schnabel orangegelb, der Fuß dunkelbraun. Beim alten Weibchen ist die Oberseite mattschwarz, die Unterseite auf schwarzgrauem Grund durch lichtgraue Saumflecke gezeichnet; Kehle und Oberbrust sind auf gleichfarbigem Grunde weißlich und rostfarben gefleckt, der Schnabel graubraun. Das Jugendkleid zeigt oben auf schwarzbraunem Grunde rotgelbe Schaftflecke, unten auf rostfarbigem Grunde bräunliche Querflecke. Die Länge ist ca. 24cm.“

Intelligente Luftakrobaten
„Alle Drosselarten [also auch die Amseln] sind begabt, feinsinnig, bewegungsfähig, gewandt, sangeskundig, munter und unruhig, gesellig, aber keineswegs friedfertig. Vom frühen Morgen an bis zum späten Abend sieht man sie fast ununterbrochen beschäftigt; nur die Glut des Mittags lähmt einigermaßen ihre Tätigkeit. Auf dem Boden hüpfen sie absatzweise mit großen Sprüngen gewandt umher; bemerken sie etwas auffälliges, so schnellen sie den Schwanz nach oben und zucken gleichzeitig mit den Flügeln nach unten. Im Gezweige hüpfen sie rasch und geschickt; größere Entfernungen überspringen sie, indem sie die Flügel zu Hilfe nehmen. Der Flug ist vortrefflich. Aufgescheucht flattern sie in täppischer Weise über den Boden dahin; aber dieselben Vögel streichen, sobald sie sich in eine gewisse Höhe erhoben haben, mit außerordentlicher Schnelligkeit durch die Luft.“

Hören und Sehen
„… unter den Sinnen sind Gesicht [Augen] und Gehör hoch entwickelt. Sie nehmen selbst das kleinste Insekt auf weite Entfernungen wahr und erkennen, wenn sie in hoher Luft dahinziehen, die Gegenstände tief unter sich auf das genaueste; sie hören Töne nicht nur sehr scharf, sondern unterscheiden sie auch genau. Im Garten und im Wald werden sie zu Warnern, auf die auch fremdartige Vögel, ja sogar Säugetiere achten. Alles Auffallende, Ungewohnte, Neue erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie kommen mit ausgesprochener Neugier herbei, um einen Gegenstand, der sie reizt, besser ins Auge zufassen, halten sich aber stets in angemessener Entfernung.“

In netter Runde
„Geselligkeit scheint den Amseln ein Bedürfnis zu sein. Sie sind keineswegs friedfertig, geraten vielmehr recht häufig in Streit; aber sie können nicht voneinander lassen. Sie vereinigen sich nicht bloß mit anderen derselben Art, sondern mit allen Drosseln überhaupt, und es kann geschehen, dass Individuen verschiedener Arten lange Zeit zusammenbleiben und reisen.“

Sängerknaben und Mädel
„Der Amselgesang steht dem der Singdrossel kaum nach, hat mehrere Strophen, klingt aber nicht so fröhlich, sondern eher feierlicher oder trauriger als der ihrer begabten Verwandten. Ihr Lied ist inhaltsreich, wohl- und weittönend. Mit den flötenden Lauten wechseln allerdings auch schrillende, minder laute und nicht sehr angenehme Töne ab; aber die Anmut des Ganzen wird dadurch nicht beeinträchtigt.“

Speisekarte
„Die Nahrung besteht aus Insekten, Schnecken und Würmern, im Herbst und Winter auch aus Beeren. Alle Drosselarten nehmen erstere vom Boden auf und verbringen hier deshalb auch täglich mehrere Stunden. Sie fliegen auf Wiesen und Felder, an die Ufer von Flüssen und Bächen und anderen Nahrung versprechenden Orten. Es wurde beobachtet, dass Amseln, wie auch Grünspechte, in Ameisenhaufen Löcher graben, um an die weißen Larven zu gelangen. Nicht bloß mit dem Schnabel, sondern auch mit den Füßen, indem sie wie Hennen scharren. Sie können sogar Gartenschnecken an bestimmten Steinen zerschlagen, um an das Innere zu gelangen. Beeren und Früchte behagen ihnen sehr, wobei die Vorlieben verschieden sein können. Außerdem verzehren alle Drosselarten Erd-, Him-, Brom- und Johannisbeeren, rote und schwarze Holunderbeeren, Preisel-, Faulbaum-, Kreuzdorn- und Ebereschenbeeren, Kirschen, Mirabellen, Weinbeeren usw., wodurch sie in Gärten sehr lästig werden können.“

Kind und Kegel
„Die Amsel nistet in den Dickichten, am liebsten auf jungen Nadelbäumen und immer niedrig über dem Boden, zuweilen selbst auf ihm. Das Nest ist nach dem Standort verschieden. Wenn es in Baumlöcher mit großer Öffnung gebaut wird, wie es auch wohl vorkommt, ist es nur ein Gewebe von Erdmoos und dürren Halmen. Wenn es frei steht, bilden feine Würzelchen, Stängel und Gras die Außenwände, eine Schicht feuchter Erde die Innenseite. Bisweilen ist das Nest nichts anderes als eine gescharrte Delle ohne eine Spur von Auslage. Bei sehr günstigem Wetter findet man bereits um die Mitte März 4 – 6 auf blassgrünem Grunde mit hell zimt- oder rotfarbigen Flecken und Punkten bedeckte Eier. Das zweite Gelege pflegt Anfang Mai vollzählig zu sein. In manchen Jahren brütet das Paar dreimal. Das Weibchen wird nur in den Mittagsstunden vom Männchen abgelöst; beide Eltern aber pflegen ihre Brut aufs Zärtlichste und gebärden sich überaus ängstlich, wenn ein Feind dem Neste naht.“

Angriff mit List und Tücke
„Sogar den Angriff auf die Feinde ihrer Brut scheuen die Amseln nicht, indem sie mutvoll auf jene herabstoßen oder, um sie zu schrecken, dicht an ihnen vorbeifliegen. Fruchtet Mut nicht, so nehmen sie ihre Zuflucht zu instinktiver List, stellen sich krank und lahm und flattern auf dem Boden dahin, locken den Räuber, der sich betören lässt, dadurch wirklich vom Neste ab, führen ihn weiter und weiter und kehren dann frohlockend zu den Jungen zurück. Nach einer 10 -14 tägigen Bebrütung sind die Eier gezeitigt und schon drei Wochen später die Jungen, die vorzugsweise mit Insekten aufgefüttert und reichlich versorgt werden, flugfähig.“

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