Ein Recht auf Leben

Eine Geschichte aus dem Leben eines „Wildvogels“

Ein Gastbeitrag von Eckart Schulze

Da fahre ich durch die Nacht mit meinem Taxi. Die Fahrgäste längst an ihr Ziel, die Jagdhütte, gebracht. Dort, wo die Wachteln und der Rehrücken gegrillt werden. Im Radio läuft das Nachtprogramm. Die brillante Stimme von Heike Schäfer, die mit den „Glocken von Rom“, singt ein mir bis dahin unbekanntes Lied. Ich höre erst nur Bruchstücke:

„…… du bist nicht schön, du wirst leicht überseh‘ n ……“. 

Eigenartig. Wen besingt sie da?

„…… dass kein Dichter dich besingt, du hast dich dran gewöhnt ……“. 

Aha, deshalb ist dieser Song auch kaum gespielt worden. Der Refrain verrät das Rätsel, ein kleiner Spatz ist gemeint. Einer von zig tausend.

Ich komme am Hauptbahnhof an, reihe mich in die Taxischlange ein.

Junge Stadttauben in Menschenobhut, © Aysin Matthiesen
Junge Stadttauben in Menschenobhut, © Aysin Matthiesen

Neben mir läuft eine dieser Stadttauben, deren Eltern mal Brieftauben waren. Die nicht mehr heim fanden bei ihrem halsbrecherischen, erzwungenen Rückflug und deshalb zu Stadttauben wurden. Jedes Jahr 1 bis 2 Millionen verlorene Brieftauben in Deutschland, „Ausschussware“. Aber warum läuft dieses Taubenkind noch rum, mitten in der Nacht, wo alle anderen Tauben schlafen? Es muss einen wahnsinnigen Hunger haben, der es nicht schlafen lässt.

Es fiept noch, wie es Taubenkinder tun, bevor sie das Gurren lernen. In einem Alter, wo sie schon recht erwachsen aussehen, aber noch von den Eltern gefüttert werden. Warum schläft es nicht bei seinen Eltern im Nest? Taubenkinder sind ohne Eltern verloren, müssen verhungern. Ob es ein Waisenkind ist? Die Eltern einer dieser absurden Vernichtungsaktionen zum Opfer gefallen? Aufgespießt, die Beinchen abgeschnitten, festgeklebt, stranguliert, vergiftet?

Ich werde es ein bisschen beobachten.
Mir geht das Lied von dem Spatzen nicht aus dem Kopf.

„…… du lebst von dem, was ab und zu vom Tisch der Reichen fällt ……“.

Ich lasse ein paar Brotkrümel fallen, direkt vor den bettelnden Schnabel, aber er pickt sie nicht auf. Zu dunkel kann es nicht sein, hier auf dem hell beleuchteten Bahnhofsplatz. Es ist ganz einfach noch zu jung zum Selberpicken. Ziellos läuft das Waisenkind fiepend weiter.

Zwei Stadttauben mit konzentriertem Blick auf die Körnermahlzeit, © Vanessa Franz
Zwei Stadttauben mit konzentriertem Blick auf die Körnermahlzeit, © Vanessa Franz

Läuft in Richtung einer wartenden Familie, deren gelangweilter Sprössling plötzlich das Vögelchen erblickt: „Guck mal, Mami, eine dreckige Taube!“ Und schon rennt das Kind im Kindergartenalter los, holt kräftig aus und tritt die Taube, dass sie in hohem Bogen in der angrenzenden Blumenrabatte landet. „1:0“, spendiert der Vater Beifall. „Eine weniger“, murmelt die Mutter wohlwollend hinterher.

Was ist das für eine Welt, denke ich, wo die Kinder zu sinnloser Brutalität erzogen werden. Wo ein hilfeschreiendes, gefühlvolles Lebewesen Verachtung und qualvollste Schmerzen erleiden muss, zur Schadenfreude der jüngsten Menschenkinder.

„…… und doch hast du ein Recht auf Leben, hier auf dieser großen Welt ……“,

so hat es vorhin Heike Schäfer gesungen, und mir kommen die Tränen.


Ich steige aus meinem Taxi, finde in den Blumen ein Bündel Federn, das eben noch gelebt hat, regungslos. Es ist recht dunkel im Gestrüpp und dennoch sehe ich glänzende kleine Augen in dem Federbündel, die zu mir hochschauen, ängstlich, fassungslos, flehentlich. Ganz behutsam nehme ich das doch noch lebende Wesen aus der Rabatte. Ein Flügel hängt schlaff herunter. Fiepen tut es nicht mehr.

„Sing, kleiner Spatz“

der Titel meines vielzitierten Liedes, aber das Taubenkind tut mir den Gefallen nicht. Es kann ihn mir nicht mehr tun. Es hat Todesangst.

Menschen können so grausam sein. Erst bringen sie die Eltern dieses kleinen Vogelkindes um, sein Zuhause, seine Geborgenheit, seine Zuflucht. Dann vergehen sie sich auch noch an dem Kind selbst. Und finden sich auch noch toll dabei. Keinen, den ich mehr verabscheuen würde, als solche gefühllosen Lebewesen, die sich Menschen nennen.

Ich trage den kleinen Patienten zum Taxi, bette ihn vorsichtig in ein Handtuchund gebe ihm zu trinken. In diesem Moment steht mir kein Mensch näher als dieses verzweifelte Waisenkind.

„…… Du bist doch auch, wie alle hier, ein Spatz in Gottes Hand ……“,

so ging es weiter, das Lied vorhin im Radio.
Mir fällt das Gedicht ein, was bei uns zu Hause jedem Besucher im Weg hängt. Der letzte von 4 Versen über ein Kälbchen auf der Schlachtbank:

Doch bei dem letzten Hauch der Kehle
ein Strahl aus Deinen Augen spricht:
„In mir auch wohnet eine Seele,-
für mich auch hält ein Gott Gericht!“

Das Gedicht hatte ich mal einer Frau aus dem Kirchenvorstand gegeben. Sie hatte keine Zeit, die 4 Verse zu lesen.


Entkräftet fallen meinem Täubchen die Augen zu. Ich spüre sein Herz in meinen Händen klopfen. Ich denke nach über das Leben. Was ist der Unterschied zwischen dem Leben eines Menschen und dem einer Taube? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Welches Leben ist wertvoller? Wer kann darüber ein objektives Urteil abgeben? Wohl nur jemand, der nicht Mensch und nicht Taube ist. Aber auf dieser Welt entscheidet nur der Mensch über gut und böse, über richtig und falsch, über wertvoll und wertlos. Als wäre er alleine der Richter über alle Lebewesen. Als wäre seine Vernunft die einzige. Die Vernunft einer Ellenbogengesellschaft, die unfair und feige Schwächere misshandelt, statt ihnen zu helfen, sich über Schwächere lustig macht, statt ihnen beizustehen, die Schwächere umbringt, ihre Körper zerteilt und vornehm verspeist, statt deren Leben zu beschützen, die durch Lust am Töten lebensfrohe Tierfamilien brutal zerstört, fassungslos unglücklich macht, statt ihnen Lebensraum zurückzugeben.

Ich erwache aus meinen Gedanken, weil das Handtuch, in dem ich die Taube halte, feucht geworden ist. Blut ist durchgesickert. Mit mir ist auch die kleine Taube wieder aufgewacht, sie atmet jetzt schwerer, röchelt bei jedem Luftholen.

Stadttauben baden sehr gern in flachen Schalen, © Vanessa Franz
Stadttauben baden sehr gern in flachen Schalen, © Vanessa Franz

Ich suche nach einer offenen Verletzung, finde sie unter ihren Federn nicht gleich, aber ich muss sie finden, damit ich die Blutung stillen kann. Soviel Blut hat eine Taube nicht. Schließlich entdecke ich ein Loch im Kropf. Vorsichtig drücke ich auf die blutende Stelle, nur so fest, dass sie noch atmen kann, aber ausreichend, die Blutung in kurzer Zeit zum Stehen zu bekommen.

Mir wird klar, ohne tierärztliche Hilfe kann die Taube nicht überleben. Kurzentschlossen fahre ich zum tierärztlichen Notdienst. Dort packe ich mein Häufchen Elend im Handtuch aus. Was das für eine Taube sei, fragt der Tierarzt, eine Stadttaube? Die könne er nur einschläfern, sie hätte keine Chance, die Verletzung sei nicht zu behandeln.

Ich sehe der Taube in die Augen. Sie schauen mich so wahnsinnig traurig an. Als wollten sie sagen, hilf mir doch, ich möchte doch so gerne leben. Sie macht keinen Versuch, meiner Hand zu entfliehen. Ist sie zu erschöpft? Oder hat sie zu mir bereits Vertrauen gefasst? Setzt sie auf mich eine Hoffnung?

„Wenn’s ja eine wertvolle Zuchttaube wäre“, unterbricht der Tierarzt meine Gedanken, „aber mit dem lädierten Flügel wird sie ohnehin nie wieder fliegen können.“ Ach, denke ich, hätte ich sie als Brieftaube deklariert, wäre sie wohl eher behandelt worden. Aber als invalide Stadttaube wird ihr jegliche Lebensberechtigung abgesprochen.
Ist das bei den Menschen auch so?

Sie muss furchtbare Schmerzen haben. „Können Sie ihr ein Schmerzmittel geben?“, frage ich den Tierarzt. „Diese Taube kann man nur einschläfern, es gibt eh genug davon“, wehrt er jetzt schon etwas ungeduldig ab.

Eine Stadttaube in Menschenobhut, © Vanessa Franz
Eine Stadttaube in Menschenobhut, © Vanessa Franz

Es bricht mir fast das Herz. „Diese Taube gibt es nur ein einziges Mal!“, reklamiere ich ganz entsetzt. Rasch wickele ich meine Taube wieder ins Handtuch, bezahle meinen Obolus und verlasse die Praxis.

Was soll das alles? Da müssen unzählige Tiere als Versuchstiere für Schmerzmittel der Menschen sterben, nach einem grausamen und kurzen Leben, für Tests, die ohnehin auf den Menschen nicht übertragbar sind, die meist einzig für den Erwerb des Doktortitels durchgeführt werden. Und die, die davon profitieren könnten, nämlich die Tiere selbst, bekommen diese Produkte nun auch noch vorenthalten. Zumindest die, die als Stadttauben auf die Welt gekommen sind. Oder durch ein Unglück zu Stadttauben geworden sind.

Da sitze ich wieder in meinem Taxi, auf meinem Schoss ein klopfendes Herz, ein Geschöpf, das leben möchte, ein Geschöpf mit so vielen Gefühlen, was lautlos nach Erbarmen schreit, vollkommen unschuldig, was weiter nichts getan hat, als völlig ausgehungert seine Eltern zu suchen.

Ich versuche, ihm ein bisschen Liebe und Geborgenheit zu geben, halte es behutsam in meinen Händen und berühre mit den Lippen seinen Schnabel. Ich spreche jetzt ganz ruhig mit ihm: „Du, mein kleiner Freund, ich glaube, es gibt jemanden, der mehr ist, als ein Mensch wie ichund der mehr ist, als eine Taube wie Du, der mehr ist, als ein Tierarzt und der mehr ist als alles Lebendige auf der Welt, jemand, der Dich nicht alleine lässt, der Dir und Deinen Eltern entgelten wird, was die Menschen in ihrer Dummheit und Grausamkeit Euch angetan haben.“ In meinen Händen wird es jetzt still, fast erschreckend still. Aber das kleine Herzchen klopft noch, nur die Atmung ist jetzt viel ruhiger geworden. Aus den kleinen Augen spricht so etwas wie Dankbarkeit und tiefer Frieden.

Die rechte Taxitür wird aufgerissen, ein stinkender volltrunkener Mann mittleren Alters pflanzt sich auf den Beifahrersitz, in einer Hand ein Hühnerbein, an dem er rumknabbert, unterm Arm eine Dose Bier. Er lallt erst ein bisschen unverständlichen Kram, bis er meinen kleinen Freund erblickt: „Iiiih, ist ja ekelig, ’ne Dreckstaube!“, worauf er panikartig mein Taxi wieder verlässt. Wer ist hier ekelig, denke ich mir. Heilfroh, diesen ekeligen Passagier nicht befördern zu müssen. Klar, so kann ich nicht weiter Taxi fahren. Ich telefoniere meine Frau aus dem Bett, dass sie kommt und mir meinen Patienten abnimmt.

2 Jahre später:

Erfolgreiches Flugtraining einer Stadttaube in Menschenobhut, © Vanessa Franz
Erfolgreiches Flugtraining einer Stadttaube in Menschenobhut, © Vanessa Franz

Paulchen ist gerade nach Hause gekommen, zusammen mit seiner Frau Pauline. Hat ans Fenster geklopft, damit wir sie herein lassen. Denn nachts schlafen sie beide auf unserem Wohnzimmerschrank. Ich öffne das Fenster und er fliegt auf meine Schulter, Pauline macht eine kurze Zwischenlandung bei meiner Frau, beide knabbern liebevoll an den Ohren. Es ist das, was sie zur Begrüßung immer tun. Dann fliegen sie zu ihrem Schlafplatz, gurren und schnäbeln da noch eine Weile rum, bis sie eng nebeneinander sitzend auf die Nacht warten.

Was war inzwischen geschehen:

Nachdem meine Frau damals die todkranke Taube bei mir vom Taxi abgeholt und zu Hause noch etwas Traubenzuckerlösung verabreicht hat, die allerdings teilweise aus dem Loch im Kropf wieder raustropfte, sind wir am nächsten Morgen gemeinsam in eine etwas abgelegene Tierklinik gefahren. Dort hatte man mehr Verständnis für unser misshandeltes Taubenkind.

Auch wenn es ein Risiko war, aber mit größter Sorgfalt wurde das angeblich nicht behandelbare Taubenkind operiert, das Loch im Kropf konnte verschlossen, der Flügel geschient werden und liebevoll zeigte man uns die Handgriffe der notwendigen Nachbehandlung. Das waren viele Tage und Wochen nicht nur das tägliche Füttern von Spezialaufbaukost, sondern auch die weitere Wundbehandlung.

Wir bauten den überdachten Balkon um zu einer großen Voliere, wo unser Taubenkind Paulchen das Fliegen lernen konnte, bis wir es nach langer Zeit als erwachsene Taube freigelassen haben, die dann hin und wieder große Ausflüge machte, aber stets zu uns zurückkam. Bei der Gartenarbeit saß sie oft auf der Schulter und freute sich, ein Familienmitglied geworden zu sein. Und weil es bald noch mehr Pflegekinder in unserer Voliere gab, fand Paulchen auch bald eine passende – vorübergehend invalide – Taubenfrau und wir konnten oft beobachten, wie glücklich sie miteinander waren.
Es hat uns einiges gekostet an Geld und Zeit. Aber das Glücklichwerden dieser totgesagten Geschöpfe hat es uns vielfach zurückgegeben.

Stadttauben sind ihrem Partner sehr verbunden und treu, © Aysin Matthiesen
Stadttauben sind ihrem Partner sehr verbunden und treu, © Aysin Matthiesen

Es klingt wie im Märchen. Aber wenn wir die Augen öffnen für verachtete, leidende Mitgeschöpfe, wird’s immer wieder Wirklichkeit.

„…… Sing, sing, kleiner Spatz, sing ein Lied für mich,
Du hast Deinen Platz, ganz genau wie ich,
sing aus Herzenslust, sing so laut Du kannst,
sing, sing, kleiner Spatz und hab‘ keine Angst …….“